Wie wird der Strom in die Steckdose kommen?

Zu den großen unterschätzten Zukunftsressourcen in Deutschland zählen die ostdeutsche Bereitschaft zur Veränderung und die ostdeutsche Kompetenz auf dem Gebiet der Energie. Deutschland und Europa sollten sich diese Kompetenzen zunutze machen

Werde ich nach wichtigen Ressourcen des Fortschritts in Deutschland gefragt, dann fallen mir „harte“ und „weiche“ Faktoren ein: Zu den unterschätzten „weichen“ Fortschrittspotenzialen gehört die ostdeutsche Veränderungsbereitschaft, zu den unterschätzten „harten“ die ostdeutsche Energiekompetenz.

Die Ostdeutschen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten Beispiel um Beispiel dafür geliefert, dass es möglich ist, tiefgreifende Umbrüche zu überleben – und sogar zu gestalten. Zu häufig reduziert man diese ostdeutsche „Umbruchkompetenz“ auf bloße Flexibilität am Arbeitsmarkt: die Bereitschaft vieler Menschen, weite Wege zurückzulegen, früher aufzustehen, später Feierabend zu machen, nachts und am Wochenende zu arbeiten oder mehrere Jobs miteinander zu kombinieren. Auch dies hat – notgedrungen – die ostdeutsche Wirklichkeit der vergangenen zwei Jahrzehnte gekennzeichnet. Aber darum allein geht es nicht. Mit dem Wort „Umbruchkompetenz“ meine ich vielmehr die ganz grundlegende Fähigkeit zum Leben und Arbeiten unter Bedingungen der Ungewissheit und der Instabilität, die Fähigkeit zur Improvisation, zur Netzwerkbildung und, wenn nötig, zum abermaligen Neuanfang. Aufgrund ihrer Erfahrungen haben Ostdeutsche eines zutiefst verinnerlicht: Es kann auch ganz anders kommen.

Auf diesem Gebiet ist der Osten dem Westen heute voraus. Ökonomisch existiert in Westdeutschland vielfach noch immer eine Art „Kombinatsstruktur“: Industrielle Großunternehmen wie Siemens oder Volkswagen, Daimler oder BMW mit ihren Zehntausenden von Mitarbeitern stellen eine Spielart des Wirtschaftens dar, die es in Ostdeutschland – ob zum Guten oder Schlechten – ganz einfach nicht mehr gibt. Im Osten wird mittlerweile in ganz anderen, zum Teil fragileren, aber auch anpassungsfähigeren Strukturen und Prozessen gewirtschaftet. Es könnte sein, dass sich diese Art des flexiblen Wirtschaftens in kleineren Einheiten als das langfristig zukunftstauglichere Modell erweisen wird. Sicher kann man sich dessen aber nicht sein.

Veränderungsbereitschaft als „weicher“ Fortschrittsfaktor ist die Voraussetzung dafür, überhaupt „harte“ Ressourcen entwickeln zu können. Öffentlich viel zu wenig beachtet, haben sich die ostdeutschen Länder in den vergangenen Jahren zu einem einzigen großen Kompetenzzentrum auf dem Gebiet der Energie entwickelt. Lange schienen die Ansiedlungsanstrengungen der Automobil- und Mikroelektronikindustrie für den Osten bedeutsamer. Ob das so bleiben wird, ist mindestens fraglich. Jedenfalls stehen in Ostdeutschland heute nicht nur die effizientesten Braunkohlekraftwerke. Hier wird auch an Technologien gearbeitet, die den Durchbruch bei der klimafreundlichen Verbrennung fossiler Energieträger bedeuten könnten. Sollte es gelingen, Kohlendioxid bei der Verbrennung von Braunkohle großtechnisch abzuspalten und zu speichern, könnte Ostdeutschland zu einem international führenden „Innovationslabor“ in Sachen Energie werden.

Wer unbequeme Fragen verdrängt, setzt die Zukunft aufs Spiel


Auch bei den erneuerbaren Energien hat sich Ostdeutschland an die Spitze gesetzt. Jede sechste Solarzelle der Welt kommt aus Ostdeutschland, das damit ein international herausragender Standort für Solarindustrie und Fotovoltaik geworden ist. In Sachsen und Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg sind wichtige Forschungs- und Produktionsstätten der Solarindustrie entstanden. Bei der Produktion und Installation von Windkraftanlagen liegen Brandenburg und Sachsen-Anhalt deutschlandweit an der Spitze. 40 Prozent der in Deutschland installierten Windkraftleistung entfallen auf die ostdeutschen Länder. Zudem sind zwei Drittel der Biokraftstoffproduktion in Ostdeutschland angesiedelt.


Angesichts der globalen Klimakrise werden diese Fortschrittspotenziale Ostdeutschlands bisher vollkommen unterschätzt. Ihre langfristige strategische Bedeutung für Wirtschaftskraft, Innovationsfähigkeit und Beschäftigung wird noch nicht in ausreichendem Maße erkannt und kommuniziert. Das gilt besonders für den hier und da aus mangelnder Weitsicht noch skeptisch betrachteten Ausbau der erneuerbaren Energien. Schließlich wird es darauf ankommen, dass wir in Deutschland eine ebenso breit angelegte wie offene Debatte darüber führen, welche Aussichten für eine klimafreundliche Nutzung unserer heimischen Braunkohle bestehen.

Die Energie- und Klimapolitik macht schwierige Abwägungen erforderlich. Wer das verdrängt, setzt die Zukunft unserer Gesellschaft aufs Spiel. Je mehr Menschen verstehen, dass es bequeme Lösungen auf diesem Gebiet schlicht nicht gibt, desto besser für unser Land. Nur dann haben diejenigen eine Chance, mit ihren Argumenten öffentlich durchzudringen, die für eine realistische Energie- und Klimapolitik eintreten. Nach dem Muster „Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose“ denken tatsächlich immer noch viel zu viele. Diese Haltung müssen wir zurückdrängen – und zwar durch geduldige Aufklärung. Denn selbstverständlich hat der Strom aus der Steckdose Voraussetzungen – ebenso wie die Wärme in unseren Heizkörpern. Und über diese Voraussetzungen müssen wir miteinander reden.

Genauso abträglich für eine aufgeklärte Energie- und Klimapolitik sind Debatten, in denen – meist im Brustton der Überzeugung – hervorgehoben wird, welche Energieträger unbedingt abgelehnt werden sollten. Erdöl wird knapp und mittelfristig teuer. Deshalb wird gefordert, dass wir uns so schnell und so weitgehend wie möglich vom Erdöl abnabeln. Zugleich soll möglichst kein Strom mehr aus Kohle gewonnen werden, weil so Lebensräume zerstört werden und das bei der Verbrennung anfallende Kohlendioxid das Klima anheizt – es sei denn, es gelingt, das Kohlendioxid zurückzuhalten und zu lagern. Die Kernenergie wiederum halten viele Menschen – zu Recht – für gefährlich und auf die Dauer nicht verantwortbar. Beim Erdgas gilt die zunehmende Abhängigkeit von Russland als Problem. Windräder sind unbeliebt, weil sie als Verschandelung der Natur wahrgenommen werden. Und der verstärkte Anbau von Biokraftstoffen verknappt weltweit die Produktion von Nahrungsmitteln.

Für viele solcher Einwände gegen bestimmte Energieträger sprechen gewichtige Argumente. Problematisch ist aber, dass sie uns zusammengenommen geradezu zur Untätigkeit zwingen. Aber Negation genügt nicht. Mit bloßer Ablehnung und Verweigerung lässt sich keine verantwortliche Politik machen. Wer sich im Grunde jede Option verbaut, katapultiert sich aus der ernsthaften Debatte um Energie und Klima heraus. Wenn der Strom tatsächlich weiter aus unseren Steckdosen kommen soll, wenn unsere Unternehmen wettbewerbsfähig sein sollen und unsere Wohnungen beheizt – dann brauchen wir konstruktive Antworten – und viel Veränderungsbereitschaft. Vor uns liegen intensive Debatten zu diesem Thema. An ihnen werden sich Ostdeutsche intensiv beteiligen. «

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