Fortschritt reloaded
Sozialdemokratische und andere Parteien der linken Mitte pflegen, seit der Erschöpfung des reformistischen Elans am Ende der siebziger Jahre, ein ziemlich kompliziertes Verhältnis zum Konzept des gesellschaftlichen Fortschritts. Ihr Abschied von einem normativ verstandenen Fortschrittsbegriff hatte seine Ursachen – und ebenso hat er Konsequenzen für Gegenwart und Zukunft der linken Mitte. Auf beides werden wir im Folgenden eingehen. Zentral für unsere Argumentation ist dabei, dass der Verlust eines emphatischen Verständnisses von gesellschaftlichem Fortschritt die Parteien der linken Mitte langfristig schwer geschwächt hat. Bloß nominelle oder taktisch verstandene „Progressivität“ ohne authentischen Fortschrittsdrang ist kein adäquater Ersatz. Erst die tatsächliche Wiederentdeckung und Praxis des Fortschritts wird Sozialdemokraten und anderen Parteien in Zukunft wieder Gestaltungskraft, Attraktivität sowie elektorale Mehrheiten bescheren. Doch das neue Fortschrittsdenken darf nicht das alte sein. Die progressive linke Mitte für unsere Zeit muss auf die Leitideen Kooperation, Kreativität und Gleichheit setzen.
Um zu illustrieren, was der linken Mitte verloren gegangen ist, soll hier zunächst kurz an die vorangegangene gesellschaftliche Konfiguration erinnert werden: Wohlfahrtsstaatliche Reformen würden, so war man in der Reformära der sechziger und frühen siebziger Jahre überzeugt, in Kombination mit stabiler Prosperität, zu mehr materieller Gleichheit führen und allen Menschen ein Leben in Wohlstand sichern. Jeder Bürger würde die Möglichkeit haben, aus seinem Leben etwas zu machen. Ökonomisches Wachstum und technologischer Fortschritt würden sich somit zugleich auch in gesellschaftlichen Fortschritt übersetzen. Gleichzeitig rissen Mitte-Links-Regierungen gewissermaßen auch „die Fenster“ auf. Mehr und mehr Menschen sollten Zugang zu ordentlicher Bildung haben. Dabei sollten Menschen nicht nur ihre individuellen Qualifikationen steigern können, sondern es sollte auch das allgemeine kulturelle Niveau in den westlichen Gesellschaften gehoben werden. Alte Zöpfe sollten abgeschnitten werden, Autoritäten wurden hinterfragt, überkommene hierarchische Ordnungen durchwehte ein emanzipatorischer Geist des -Egalitarismus.
Modernität + Gleichheit = Freiheit. So lautete einst die Faustformel
Nicht nur in Deutschland, in Schweden oder in Österreich wurden Slogans wie „Wir schaffen das moderne Deutschland“ (Willy Brandt) ausgerufen oder die „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie“ (Bruno Kreisky) verkündet. Der aufstrebende schwedische Nachwuchspolitiker Olof Palme hatte bereits 1964 postuliert: „Unser Ziel ist Freiheit, so weit wie möglich, vom Druck der äußeren Verhältnisse. Freiheit für den einzelnen Menschen, seine Eigenart zu entwickeln. Wahlfreiheit für das Individuum, sein Dasein nach den eigenen Wünschen zu formen.“ Willy Brandt wiederum erklärte 1969 kurz vor dem historischen Wahlsieg der SPD: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands gilt nach Meinung eines großen Teils unseres Volkes als Partei des Fortschritts. Die Zeiten, da politische Tageserfolge mit der Parole ‚Keine Experimente’ erzielt werden konnten, sind ohnehin vorbei. Die Mehrheit der Deutschen spürt den Zusammenhang zwischen der Erhaltung des Friedens, wirtschaftlicher Stabilität, Reform des Bildungs- und Ausbildungswesens.“ Und im selben Jahr, in seiner ersten Regierungserklärung als neuer Bundeskanzler, rief Brandt aus: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“ Mit Sätzen wie diesen brachten Kreisky, Palme und Brandt das progressive Lebensgefühl einer ganzen Generation von Westeuropäern auf den Punkt, die den „dunklen Kontinent“ (Mark Mazower) der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinter sich ließen und zuversichtlich nach vorn blickten. Die Zukunft sollte besser gelingen.
„Modernität + Gleichheit = Freiheit“, so lautete die begeisternde Faustformel jener Jahre. Und die Bürger glaubten daran. Sie standen der Politik in ihrer großen Mehrheit damals nicht zynisch gegenüber, jedenfalls nicht in einem Maße, das mit den heutigen Ausmaßen von Ernüchterung, Verdruss und Verachtung vergleichbar gewesen wäre. Die politischen Anführer der Mitte-Links-Parteien und ihre Wähler hatten also noch eine Zukunftsorientierung im Kopf, an die sie tatsächlich glaubten. Sie waren davon überzeugt, dass die Gesellschaften, in denen sie lebten, in zehn oder zwanzig Jahren bessere Gesellschaften sein würden; dass ein noch höheres Maß an Gerechtigkeit und sozialer Gleichheit realisiert werden könne; dass es gelingen werde, eklatante materielle Defizite und verbreiteten Mangel an Lebenschancen zu beseitigen und dabei zugleich ein höheres Maß an demokratischer Partizipation herbeizuführen. Sie hatten also, kurzum, ein Bild von progressiver Gesellschaftsverbesserung im Kopf.
Diese Konfiguration ging aus verschiedenen Gründen zu Ende. Das lag einerseits daran, dass der reformistische Elan der sechziger und frühen siebziger Jahre so etwas wie eine nachholende Modernisierung war: Vertreter der linken Mitte hatten eine ziemlich exakte Vorstellung davon, inwiefern die gesellschaftlichen und politische Realitäten in ihren Staaten den spätestens seit den fünfziger Jahren beschleunigt verlaufenden kulturellen Veränderungen hinterherhinkten. Zugleich hatten die Parteien der linken Mitte ein paar grundlegende programmatische Gewissheiten und Vorhaben in der Schublade, die sie nun gewissermaßen nacheinander abhaken konnten. Als das einmal erledigt war, erlahmte der Reformeifer bereits etwas. Hinzu kam, dass der Wirbelwind der gesellschaftlichen und politischen Veränderung nicht wenige Bürger zu überfordern begann. Spätestens Mitte der siebziger Jahre stand die Frage im öffentlichen Raum, wie viel Veränderung den Menschen eigentlich zugemutet werden könne. Wo ein paar Jahre zuvor noch fast alles möglich und der Fortschrittshorizont weit offen schien, da warfen liberalkonservative Wissenschaftler beispielsweise in Deutschland schon ab Mitte der siebziger Jahre die bange Frage nach der „Regierbarkeit“ oder „Unregierbarkeit“ westlicher Gesellschaften auf.
Plötzlich ging es vor allem darum, das Errungene zu verteidigen
Zudem verschlechterte das Ende des Nachkriegsbooms auch die Bedingungen für progressive Verteilungspolitik. Der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Burkart Lutz) war schnell wieder ausgeträumt. Die seit dem ersten Ölpreisschock von 1973 steigenden Arbeitslosenquoten erzwangen eine pragmatische Fokussierung sozialdemokratischer Politik – und damit auch eine größere programmatische Selbstbeschränkung: Die Menschen in Arbeit halten war plötzlich das primäre, ja zuweilen sogar das alleinige Ziel.
In Kombination mit der neokonservativen und neoliberalen Tendenzwende, die in den späten siebziger Jahren von der Thatcher-Revolution und den Ideen der Reaganomics ausging, verdichtete sich bei vielen Mitte-Links-Parteien und ihren Anhängern das vielleicht oft auch nur untergründige Gefühl, das bereits erzielte Maß an Wohlfahrtsstaatlichkeit sei das Beste, was zu erreichen sei; viel mehr tun, als das Errungene zu verteidigen, könne man nicht leisten. Wieder veränderte sich sowohl bei den Parteiführungen wie auch bei ihren Anhängern gleichzeitig die historische Perspektive: Dass es morgen besser sein würde als heute, das war jetzt plötzlich nicht mehr so klar. Dass es die Kinder besser haben könnten als die Eltern wirkte -keineswegs selbstverständlich. „Seit Mitte der siebziger Jahre kommen ... die Grenzen des sozialstaatlichen Projekts zu Bewusstsein – ohne dass bis jetzt eine klare Alternative erkennbar wäre“, stellte der Sozialphilosoph Jürgen Habermas schon 1985 nüchtern fest.
Haltung und Lebensgefühl des Fortschritts sind ins Hintertreffen geraten
Hinzu kam, dass Politik immer auch ein ideologischer Kampf ist und damit ein Kampf um Begriffe und ihre Bedeutung. Viele Begriffe erfuhren nun aber eine Uminterpretation. Der normativ aufgeladene Begriff des „Fortschritts“ verengte sich auf technologischen Fortschritt und wirtschaftliche Dynamik. Der Begriff „Reform“, der in der vorausgegangenen „Reformära“ identisch gewesen war mit gesellschaftlichen Veränderungen in Richtung größerer Gleichheit, mehr sozialer Sicherheit, mehr Wohlstand und zunehmenden Lebenschancen für alle, veränderte nach und nach seinen Inhalt. Oft wurde nun mit dem Begriff „Reform“ charakterisiert, was aus Sicht vieler Menschen in Wirklichkeit der Abbau sozialstaatlicher Regulierungen und sozialer Sicherheiten war.
Damit war eine grundlegend neue Konstellation eingetreten. Für die gesamte politische Kultur des Westens war der Fortschritt – jedenfalls als regulative Idee – spätestens seit der Aufklärung und der Französischen Revolution konstitutiv gewesen. Nur selten wird diese prinzipielle Haltung noch ganz selbstbewusst postuliert: „Der Anspruch der unveräußerlichen Menschenrechte bleibt ein universaler“, schreibt etwa der Historiker Heinrich August Winkler, „und solange die Menschenrechte nicht weltweit gelten, ist das normative Projekt des Westens unvollendet.“ Ohne das Prinzip des Fortschritts gibt es – im normativen Sinne – keinen Westen, so könnte man als Faustregel wohl formulieren. Und erst recht gilt dann: Ohne die regulative Idee des Fortschritts gibt es keine linke oder liberale Politik. Aber es ist offensichtlich: Die Idee und – mehr noch – die Haltung, das Lebensgefühl des Fortschritts sind ins Hintertreffen geraten. Die grundlegende Annahme der Möglichkeit einer positiven Entwicklung der Verhältnisse oder, wie es der Sozialphilosoph Jürgen Habermas formuliert hat, die „Vorstellung vom unendlichen Fortschritt der Erkenntnis und eines Fortschreitens zum gesellschaftlich und moralisch Besseren“ – das alles wird seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in höchstem Maße in Frage gestellt – ganz sicher in den Gesellschaften des westlichen Europa.
Die langfristige Wirkungsmacht dieser Wetterwende lässt sich gar nicht überschätzen. Schon 1984 – also inzwischen vor einem vollen Vierteljahrhundert – zog Jürgen Habermas eine sehr grundsätzliche Schadensbilanz: „Der Horizont der Zukunft hat sich zusammengezogen und den Zeitgeist wie die Politik gründlich verändert“, schrieb er damals. „Die Zukunft ist negativ besetzt.“ Und was damals schon zutraf, das gilt heute erst recht. Die ungestümen Umbrüche in den drei Jahrzehnten marktradikaler Hegemonie, die hinter uns liegen, haben eine tiefsitzende Fortschritts- und Zukunftsskepsis gerade in derjenigen politischen Familie ausgelöst haben, die historisch und bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die entschiedenste Vertreterin der Fortschrittsidee war.
Ausgerechnet die Sozialdemokratie, der die Idee des Fortschritts zeit ihrer Existenz geradezu in die kollektive DNA eingeschrieben gewesen ist und die einmal die Partei des Aufbruchs und des Zukunftsoptimismus war, scheint an die Möglichkeit fortschrittlicher Politik, an die Machbarkeit einer besseren Zukunft heute kaum noch zu glauben. Aber auch in anderen Parteien links der Mitte – vor allem natürlich bei den Grünen – ist diese Sicht der Dinge verbreitet. Die Idee des Fortschritts gilt heute für viele als verbraucht, als diskreditiert, als leichtfertig oder gar als gemeingefährlich. Nicht wenige halten das Konzept nach den zivilisatorischen und ökologischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts insgesamt für verbrannt. Etwas Nachsichtigere bewerten die Orientierung am Prinzip des Fortschritts heute immerhin als „idealistisch“. Aber das ist, anders als zu früheren Zeiten, natürlich keineswegs positiv gemeint, sondern muss in den meisten Fällen schlicht mit „versponnen“ übersetzt werden: gut gemeint, vielleicht sogar wünschenswert, aber eben widerlegt, nicht machbar, von gestern.
Wer heute Lanzen für die Grundidee des Fortschritts bricht, von dessen Notwendigkeit, aber auch von dessen Möglichkeit spricht, der gerät daher ziemlich schnell in den Verdacht, vielleicht ein bisschen naiv zu sein. Der wird für seinen „unschuldigen Optimismus“ (Tony Judt) belächelt und zieht sich den Vorwurf zu, aus historischem Schaden offenbar nicht so ganz klug geworden zu sein. Und der muss sich anhören, nicht genug von der Geschichte des 20. Jahrhunderts verstanden zu haben – davon nämlich, wie doch gerade unter dem kraftvoll im Winde knatternden Banner des Fortschritts nicht zuletzt auch einige der größten Verbrechen überhaupt angerichtet und schreckliche Katastrophen heraufbeschworen wurden.
Vereinfacht gesagt: Während sich den Bürgern in der europäischen Aufbauära seit den fünfziger Jahren eingeprägt hatte, dass eine Reform ihre Lebensbedingungen verbessern würde, so war das nunmehr nicht mehr so klar. Oft war sogar das Gegenteil der Fall: War seit den späten siebziger Jahren von einer „Reform“ die Rede, konnten die einfachen Leute meist davon ausgehen, dass ihnen irgendjemand etwas wegnehmen wollte. Im politisch-ökonomischen Diskurs wurde es zunehmend zur conventional wisdom, dass ökonomische Dynamik die Zunahme materieller Ungleichheiten zur Voraussetzung habe. Diese müsse akzeptiert werden, weil nur dann „die Märkte“ optimal funktionierten und, wenn alle nur aggressiv ihrem Eigennutz folgen würden, dies zum allgemeinen Nutzen umschlagen würde; weil dann mehr Reichtum geschaffen würde und der Wohlstand, auch bei ungleicher Verteilung, mittels des berühmten Trickle-Down-Effektes auch zu den Unterprivilegierten durchsickern würde.
Dem neuen Zeitgeist galt das Ideal der Gleichheit als widersinnig
Dem hinzu gesellte sich ein grundlegend verändertes Menschenbild, ein neuer hegemonialer „Zeitgeist“, demzufolge soziale und ökonomische Ungleichheiten überhaupt nicht schlimm und zu bedauern seien, sondern sogar erstrebenswert, schließlich würden sie die Welt bunter und vielfältiger machen; die Menschen seien nun einmal, so lautete jetzt die gängige Erkenntnis, an Konkurrenz orientierte Wesen. Weil nun einmal jeder nur seinen eigenen Vorteil im Auge habe, sei die Vorstellung nicht nur völlig naiv, sondern auch ökonomisch widersinnig, dass es in einer Gesellschaft so etwas wie einen gesellschaftlichen Fortschritt in Richtung größerer Gleichheit geben könne. Unbestreitbar vollzogen sich strukturelle Veränderungen, die die Voraussetzungen des früheren Erfolgsmodells der linken Mitte objektiv untergruben. Der demografische Wandel und die fundamentale Transformation der klassischen industriellen Arbeitsgesellschaft unter den Bedingungen von Rationalisierung, zunehmend wissensintensiver Wirtschaft und globalem Standortwettbewerb gehörten zu den Faktoren, die die Bedingungen irreversibel aushebelten, von deren Existenz das nationalstaatlich basierte Wohlfahrts- und Fortschrittsmodell der Parteien der linken Mitte fundamental abhing. Doch auf den Umbruch zur „postindustriellen Gesellschaft“ reagierten die Parteien der linken Mitte nicht auf angemessene Weise. Wo die Frage nach den Ursachen der fortwährenden Krise hätte gestellt werden müssen, beschränkten sich Therapieversuche regelmäßig auf die Behandlung von Symptomen.
Eine »Sozialdemokratie der Angst« ist ohne Chancen
So begnügten sich die Parteien der linken Mitte damit, ihre Rhetorik den veränderten Verhältnissen anzupassen. Dabei zeichneten sich zwei grundlegend verschiedene Varianten ab, denen allerdings gemeinsam war, dass sie beide nur reaktiven Charakter besaßen. Die einen sagten: „Ja, wir sind auch für diese wirtschaftsliberalen Reformen, weil auch wir glauben, dass sie unsere Gesellschaften dynamischer und unsere Volkswirtschaften wettbewerbsfähiger machen. Aber wir achten im Gegensatz zu unseren politischen Konkurrenten zumindest darauf, dass es dabei so fair wie möglich zugeht.“ Andere wiederum warfen sich in Verteidigungspose und sagten ihrem angestammten Elektorat sinngemäß in etwa: „Wählt uns, weil es mit uns langsamer schlechter wird.“
In der Realität kombinierten nahezu alle Parteien der linken Mitte diese Rhetorik auf die eine oder andere Weise. Und gemeinsam war ihnen, dass eine spezifische eigene Idee progressiver Gesellschaftsverbesserung zunehmend fehlte. Aber damit fehlte auch eine politische Perspektive, für die sich die Bürger hätten begeistern können. Natürlich kann es höchst ehrenwert sein, vor allem früher einmal Durchgesetztes zu verteidigen. In diesem Sinne hat Tony Judt seinem Buch Ill Fares the Land, das mit gutem Recht sein politisches Testament genannt werden darf, geschrieben: „Um es ganz deutlich zu sagen: Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, dann als Sozialdemokratie der Angst. Deshalb besteht die wichtigste Aufgabe darin, dass wir uns auf die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts besinnen – und auf die wahrscheinlichen Konsequenzen ihrer leichtsinnigen Zerstörung. Die Linke hat etwas zu bewahren.“ So unbestreitbar dies auch sein dürfte: Man wird dennoch Schwierigkeiten haben, Bürger in beträchtlicher Zahl dafür zu begeistern, nur das Bestehende zu verteidigen; weil das Bestehende doch immer auch das Gewohnte und damit das Langweilige ist; weil das Bestehende auch seine Mängel aufweist, die man sehr genau kennt; auch deshalb, weil das Bestehende, und sei es bloß durch simple objektive Veränderungen, seine Funktionstüchtigkeit verlieren kann; vor allem aber auch deshalb, weil nur positive Ziele Menschen dazu anspornen können, gemeinsam etwas anzupacken.
Es ist also Zeit für eine neue Ära des Fortschritts. Klar ist dabei freilich zunächst, dass es nicht darum gehen kann, einen bloß technokratischen oder gar autoritären Fortschrittsbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Versenkung zu holen. Tatsächlich ist der Einwand berechtigt: Es war ja zweifellos nicht zuletzt ein unterkomplexer und teilweise allzu vulgärer Fortschrittsbegriff, der uns in die vielfältigen Miseren der Gegenwart erst hineingetrieben hat; die einschlägigen Stichworte lauten Umwelt, Klima, fossile und atomare Energie. Auch religiöser Fundamentalismus und Terrorismus lassen sich mit guten Gründen als Reaktionen auf unterkomplexe Fortschrittskonzepte verstehen. Vieles von dem, was uns heute zu schaffen macht, ist nicht zuletzt die Folge allzu unreflektierter Fortschrittsversprechen des vergangenen Jahrhunderts.
Das ungebrochene, teleologische Fortschrittsdenken funktioniert nicht mehr. Fortschritt lässt sich heute weniger denn je als planmäßig zu vollendendes historisches Großprojekt vorantreiben, einem Tunnelbau gleich, der irgendwann mit dem großen Durchbruch ins gleißende Sonnenlicht endet. Etwas Demut steht Progressiven also ganz gut zu Gesicht. Aber was folgt daraus? Sollten sie deshalb der Idee und Praxis des Fortschritts ganz und gar abschwören und sich mutlosem muddling through verschreiben, um – irgendwie, vielleicht, hoffentlich – das Schlimmste zu verhindern? Das Dilemma des Fortschritts, in das wir uns durch zu viel Vulgärfortschritt der Vergangenheit hineinmanövriert haben, ist nicht so einfach aufzulösen.
Ein annehmbares Leben für alle
In seinem Buch The Politics of Climate Change greift der Soziologe Anthony Giddens die Frage anhand des sicherlich größten Problems unseres Zeitalters auf: „Unsere Zivilisation könnte sich selbst zerstören, kein Zweifel. Der Jüngste Tag ist nicht mehr bloß eine religiöse Vorstellung, nicht mehr nur ein Tag der spirituellen Abrechnung, sondern er steht unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft möglicherweise tatsächlich bevor. Kein Wunder, dass viele Menschen Angst haben. ‚Lasst uns umkehren‘, sagen sie, ‚lasst uns in eine einfachere Welt zurückkehren!‘ Diese Gefühle sind vollständig verständlich, und in manchen Kontexten besitzen sie auch ganz praktische Bewandtnis. Aber es kann keine ‚Rückkehr‘ auf der ganzen Linie geben. Gerade die Ausweitung menschlicher Macht, die unsere großen Probleme verursacht hat, stellt das einzige Mittel dar, diese Probleme zu lösen – mit Wissenschaft und Technologie an der Spitze. Es wird im Jahr 2050 wahrscheinlich neun Milliarden Menschen auf der Erde geben. Danach wird sich die Weltbevölkerung hoffentlich stabilisieren, vor allem dann, wenn die am wenigsten entwickelten Länder bis dahin erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt erleben. Deshalb müssen Mittel gefunden werden, diesen neun Milliarden Menschen ein annehmbares Leben zu ermöglichen.“
Tony Giddens hat Recht. Wenn überhaupt, dann werden wir die bereits eingetretenen und noch bevorstehenden Miseren des 21. Jahrhunderts überhaupt nur mit einem klaren Bekenntnis zu reflektiertem Fortschritt und reflektierter Erneuerung bewältigen können. Analog zu Ulrich Becks „reflexiver Modernisierung“ könnte man von einem „reflexiven Fortschritt“ sprechen. In genau diesem Sinne brauchen die Mitte-Links-Parteien einen neuen historischen Horizont – keine „Utopie“ im Sinne der alten Ideen vom „Sozialismus“, auch keine Bilder einer völlig anderen Gesellschaft oder gar eines Paradieses auf Erden. Aber sie benötigen doch so etwas wie das Ziel einer Gesellschaft, die besser funktioniert, mehr Menschen gleichberechtigt am Wohlstand beteiligt und niemanden zurücklässt; einer Gesellschaft, die es unter veränderten Bedingungen möglichst allen erlaubt, ihre Talente zu entwickeln. Sie braucht eine Handvoll Ideen, wie ein solches besseres Gemeinwesen in einer überschaubaren Frist von, sagen wir, zwanzig Jahren erreicht werden kann. Und sie muss diese oft -pragmatischen Konzepte zu einer überzeugenden Geschichte, einem Narrativ zusammenschrauben.
Es ist aufschlussreich, dass die Studie The Spirit Level: Why Equality is Better for Everyone der beiden britischen Forscher Richard Wilkinson und Kate Pickett in den vergangenen Jahren in Großbritannien, Kontinentaleuropa, aber auch in den Vereinigten Staaten derart eingeschlagen hat. Die Furore rund um The Spirit Level ist zunächst ein Symptom dafür, wie verbreitet die Sehnsucht nach solch einer plausiblen „nächsten Großen Idee“ ist. Die auf gründlicher empirischer Forschung gestützte Idee von Wilkinson und Pickett lautet: Gesellschaften funktionieren dann – in nahezu jeder denkbaren Hinsicht – besser, wenn sie unter ihren Mitgliedern größere materielle Gleichheit verwirklichen. Und solche Gesellschaften sind nicht nur für die „Profiteure“ der Umverteilung von Vorteil, also für die heute Unterprivilegierten, sondern begünstigen letztlich nahezu jeden Einzelnen. Alle Bürger haben etwas davon, wenn die Institutionen besser funktionieren; alle haben etwas davon, wenn eine Gesellschaft mit Recht auch ein „Gemeinwesen“ genannt werden kann; alle haben etwas davon, wenn der soziale Stress sinkt, den krasse Ungleichheit und die ewige Jagd nach dem Vorsprung vor den anderen für alle Beteiligten mit sich bringen.
Ungleiche Gesellschaften sind auch für die Egoisten unbequem. Aber seit dem Fiasko an den Finanzmärkten wissen wir heute auch genauer, dass nicht nur die Gesellschaft als Ganzes besser funktioniert, wenn wir relative materielle Egalität herstellen. Auch die Wirtschaft funktioniert dann besser. Ökonomien mit groben Ungleichheiten verspielen Wachstumspotenziale. Sie nehmen im Kauf, dass ein beträchtliches Segment von abgehängten Bürgern seine Talente nicht entwickeln kann und damit weniger Menschen als produktive Marktteilnehmer zum Wohlstand des Gemeinwesens beitragen können. Zudem tendiert grobe materielle Ungleichheit dazu, die gesellschaftliche Instabilität zu erhöhen. Ungleiche Gesellschaften sind also auf die Dauer auch wirtschaftlich ineffektiv – und zwar gerade auch unter den Bedingungen der gegenwärtigen, zunehmend wissensintensiv geprägten kapitalistischen Marktwirtschaft. Das politische Ziel zeitgenössischer Mitte-Links-Parteien muss deshalb darin bestehen, verschiedene Reformen zu realisieren – von der -Steuer- bis zur Wirtschaftspolitik, von der Bildungs- bis zur Familien-, Einwanderungs- und -Integrationspolitik –, die in Summe in zwanzig Jahren zu einer Gesellschaft mit deutlich verstärkter egalitärer Prägung führen. Es ist so simpel. Oder, wenn man so will, so schwierig.
Eine Transformation von Ideologie und Rhetorik
Damit das Ziel erreicht werden kann, bedarf es einer Transformation von Ideologie und Rhetorik. Wettbewerb und Individualismus, Effizienz und Ungleichheit – das waren die Bausteine der Ideologie, die die vergangenen zwanzig Jahre prägten. Wer den Mut aufbrachte, leise anzumerken, das sei doch eine irgendwie kranke Art, die Welt zu betrachten, der wurde meist als idealistischer Schwärmer abgetan. Die Menschen, so mussten sich solche Kritiker anhören, seien nun einmal konkurrenzlerisch orientiert, bloß auf ihren Vorteil und materiellen Eigennutz bedacht. Daher sei in der wirklichen Welt kein Platz für Empathie, für Kooperation und sonstige schön klingende Schlagwörter aus den Ethiklehrbüchern. Wer dennoch keine Ruhe gab, dem wurde in schneidigem Ton erklärt, man habe einfach einzusehen, dass sich eine Volkswirtschaft und damit eine Gesellschaft nun einmal besser entwickele, wenn sie als Wettkampf von jedem gegen jeden organisiert sei. Wer das nicht begreifen könne oder wolle, der verstehe eben nichts von Wirtschaft, weshalb Sozialdemokraten und andere moralisierende Gutmenschen nicht an die Schalthebel gelassen werden dürften. Sie alle würden doch nur den Reichtum verteilen, bis keiner mehr da sei. Und viel zu viele Menschen haben zu dergleichen Darlegungen viel zu lange unfroh, aber einsichtig genickt, obwohl sie den meisten unserer Alltagserfahrungen bei Lichte betrachtet völlig widersprachen.
Die allermeisten von uns haben schließlich die Erfahrung gemacht, dass man dann am meisten am Arbeitsplatz leistet, wenn man gerne ins Unternehmen geht, wenn man mit den Kollegen dort kooperativ und freundschaftlich zusammenarbeitet. Hingegen sinkt die Arbeitslust – und mit ihr auch die Qualität der geleisteten Arbeit – rasant dort, wo jeder für sich und alle gegeneinander arbeiten. Viele große Unternehmen haben längst begriffen, dass es sich für sie betriebswirtschaftlich nicht unbedingt rechnet, die Kosten um jeden Preis zu senken, die Umwelt zu schädigen oder Menschen in Zulieferbetrieben in der Dritten Welt auszubeuten – weil sie motivierte Mitarbeiter brauchen, die sich guten Gewissens mit ihrer Firma identifizieren können.
Keine Frage, die Menschen konkurrieren oft auch gegeneinander. Dafür gibt es vielfach gute Gründe. Ein Fußballer wie Lionel Messi wäre in seiner Branche nicht besonders weit gekommen, hätte er keine Freude daran, ein Dribbelduell zu gewinnen. Viele Menschen leisten Hervorragendes, gerade weil es sie antreibt im Wettbewerb mit anderen die Oberhand zu gewinnen. Aber wir wissen natürlich ebenso genau: Konkurrenz ist nicht alles im Leben. Und wir wissen noch etwas: Wir tun nicht nur dann etwas für andere, wenn die uns dafür bezahlen. Manchmal, im privaten Leben, helfen wir aus purer Hilfsbereitschaft, aus reinem Altruismus, weil „irgendein“ -moralisches Gefühl in uns genau dies von uns verlangt.
Jenseits des Privaten gibt es viele feine Abstufungen dieser Haltung, selbst in der Sphäre des eigentlich Ökonomischen. Da gibt es den Softwareingenieur, der bei Google gut verdient, und in seiner Freizeit gratis das Netzwerk seiner Lieblings-NGO wartet. Neben der Ökonomie des Kaufens und Verkaufens hat sich überall in den Gesellschaften des Westens längst auch so etwas wie eine Ökonomie der Gefälligkeit, und der gegenseitigen Hilfe etabliert, die mehr und mehr Menschen wie selbstverständlich nutzen. Wer kennt denn wirklich viele Leute, die ihre Berufswahl allein – oder auch nur vorwiegend – aus Gründen der „Optimierung von Karrierechancen“ oder der Erzielung maximaler Einkommen treffen? Viel häufiger begegnet man doch -Menschen, die sich einen Job wünschen, den sie als „sinnvoll“ oder „erfüllend“ erleben können. Nicht selten nehmen Menschen sogar Einkommenseinbußen in Kauf, weil sie eine spannende, kreative Tätigkeit vorziehen, die ihren Interessen und Talenten entspricht.
Die meisten Menschen stimmen der Maxime der Fairness zu
Selbst wenn wir einräumen, dass Menschen sehr oft und bei vielen Handlungen durchaus ein Auge auf ihren persönlichen „Nutzen“ haben, so erschöpft sich dieser „Nutzen“ natürlich keineswegs in kleinlichen materiellen Vorteilen, sondern umfasst auch nichtmaterielle ideelle Interessen. Menschen wollen nicht einfach nur viel Geld verdienen, sie wollen auch respektiert werden, sie wollen Anerkennung genießen. Sie denken womöglich sogar, dass es ihnen langfristig einen materiellen Vorteil verschafft, wenn sie sich nicht fortwährend wie konkurrenzlerische Egoisten verhalten, mit denen irgendwann niemand mehr eine Geschäftsbeziehung unterhalten will, von freundschaftlichen Beziehungen ganz zu schweigen. Es gibt also, selbst im Hinblick auf Erwägungen individuellen Nutzens eine Vielzahl an Facetten.
Kurzum: In der wirklichen Welt ist der angeblich so ubiquitäre Homo -Oeconomicus ein mysteriöses Gespenst, dessen Existenz zwar andauernd behauptet wird, dem man aber nur sehr selten von Angesicht zu Angesicht begegnet. Um ehrlich zu sein, ist er außerhalb von Investmentbanken nicht viel häufiger anzutreffen als der Yeti oder das Ungeheuer von Loch Ness. Dennoch glauben viele Menschen wider bessere Evidenz noch immer, die Welt funktioniere so, wie es die neoliberalen Propheten predigen. Ihr Missbehagen interpretieren sie gewissermaßen als ihr ganz privates Unwohlsein, das nur unglücklicherweise keine allgemeine Relevanz -besitze. „Die meisten Menschen stimmen im Grunde den Maximen der Fairness und der Gleichbehandlung zu“,schreiben Richard Wilkinson und Kate Pickett, „doch bleibt dies eher ihre persönliche Überzeugung, weil sie glauben, dass andere ihre Meinung nicht teilen. Es lässt sich aber immer besser belegen, dass die Gesellschaft aufgrund der Ungleichheit Schaden nimmt.“
Respekt und Kooperation auf gleicher Augenhöhe
Wettbewerb, Individualismus und Ungleichheit – diese ideologischen Versatzstücke der vergangenen Ära haben sich nicht nur als dysfunktional für eine stabil prosperierende Wirtschaft erwiesen, sie waren auch völlig unangemessen, bedenkt man die technologische Entwicklung hin zu einer wissensintensiven Netzwerk-Ökonomie mit ihren vielfältigen Interdependenzen und der Entstehung einer globalen Ordnung, in der keine Seite ihren Vorteil noch langfristig dadurch sichern kann, dass sie einer anderen Seite einen Nachteil verschafft.
Aber wie sollten dann die Schlüsselbegriffe lauten, die einer neuen progressiven Ära zugrunde liegen können? Drei Konzepte drängen sich auf: Kooperation, Kreativität und Gleichheit. Kooperation ist entscheidend, weil die Menschen ganz einfach mehr zustande bringen, wenn sie mit anderen zusammenarbeiten – wir sind eben keine primär konkurrenzlerischen Wesen. Auf Kreativität wiederum kommt es an, weil wir alle Dinge tun wollen, denen wir einen Sinn beimessen können, weil wir unsere Talente entwickeln wollen und weil eine Gesellschaft besser gedeiht, wenn alle Menschen die Möglichkeit haben, ihre Talente umfassend zu entwickeln. Das Konzept der Kreativität umschreibt das Beste am Individualismus, allerdings ohne den Beiklang von Egoismus und Eigennutz, der dem Wort längst anhaftet. Und nicht zuletzt muss es um Gleichheit gehen, weil unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts diejenigen Gesellschaften lebenswerter und zukunftsfähiger sind, die ihren Bürger egalitäre Lebensverhältnisse bieten können. „Modernen Gesellschaften werden zunehmend darauf angewiesen sein, kreative, anpassungsfähige, erfinderische, gut informierte und flexible Gemeinwesen zu sein“, schreiben Wilkinson und Pickett, „also Gemeinwesen, die mit neuen Herausforderungen offen umgehen, wo immer sie auftauchen. Das aber sind nicht die Eigenschaften von Gesellschaften, in denen man andächtig auf die Reichen starrt und wo die Menschen vom Statusstress zerfressen werden, sondern das sind die Eigenschaften von Gesellschaften, in denen man gewohnt ist zusammenzuarbeiten und einander auf gleicher Augenhöhe zu respektieren.“
Schon aus diesen utilitaristischen Erwägungen würden in unseren Gesellschaften jederzeit Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen von Bürgern eine an den Prinzipien der Kooperation, Kreativität und Egalität ausgerichtete politische Programmatik mit Begeisterung unterschreiben. Aber diese vielen erkennen noch zu selten eine Möglichkeit, ihren Überzeugungen politische Wirksamkeit zu verleihen. Die politischen Parteien bieten gelegentlich ein paar Programmpunkte, die sie teilen können, meist jedoch prägen Unvermögen, Dilettantismus, Kleingeistigkeit und von der Lebenswelt der Menschen weitgehend abgeschottete parteipolitische Apparate die Res publica, die Öffentlichen Angelegenheiten.
Die Bürger lassen diese Apparatparteien verständlicherweise meist links liegen, was aber zu einem Teufelskreis führt, weil damit aus diesen Parteien erst recht das Leben weicht. Eine neue progressive Ära wird es deshalb trotz beträchtlicher latenter Nachfrage aus unseren Gesellschaften heraus nur dann geben, wenn diese vielen Bürger die Sache in ihre eigenen Hände nehmen. Möglicherweise können sich die traditionellen Parteien der demokratischen Linken doch noch einmal neu erfinden. Sollte ihnen das aber nicht gelingen, werden sich erst neue politische Kräfte formieren müssen, progressive Sammlungsbewegungen, die halb als überparteiliche, halb als außerparlamentarische Bewegungen die politischen und organisatorischen Grundlagen für eine neue progressive Mehrheit schaffen.
So weitermachen wie bisher ist für die Parteien der linken Mitte keine Option; aber es ist auch keine Option, den Retourgang einzulegen. Gewiss, gerade unter den Mitgliedern sozialdemokratischer Parteien und traditionsreicher Industriegewerkschaften würden heute manche gerne wieder in die siebziger Jahre zurückkehren, in denen ihre Welt angeblich noch in Ordnung war: Die Gewerkschaften waren stark, die Gesellschaften waren sozial und ethnisch einigermaßen homogen, die Globalisierung war bestenfalls ein abstrakter Begriff und hatte jedenfalls noch nichts Bedrohliches, die Arbeitswelt war noch ziemlich formal organisiert, und die Sozialdemokraten konnten, wenn sie sich bemühten, hier und da sogar noch absolute Mehrheiten -erringen. Im Fernsehen traute sich niemand über einen Premierminister zu spotten. Im Bus standen die Teenager noch für Oma auf. Und am 1. Mai schwenkte man rote Fahnen, was zwar auch damals schon eher eine nostalgische Reminiszenz war, aber immerhin aus einer Zeit stammte, der man sich irgendwie noch verbunden fühlen konnte.
Vieles ist heute besser als in den »goldenen« siebziger Jahren
Gelegentlich findet man eine ähnliche Mentalität auch im Milieu von unorthodoxen, parteipolitisch ungebundenen Linken. Hier ist man ohnehin traditionsgemäß der Auffassung, dass immerzu alles schlimmer wird, woraus sich logisch ergibt, dass vor dreißig Jahren alles besser gewesen sein muss als heute. Was immer seither geschehen ist, kann aus dieser Perspektive nur und ausschließlich als eine Geschichte des Niedergangs, des Verfalls, des Auftürmens von Schrecklichkeiten verstanden werden. Oft haben die Linken in jener Zeit, die ihre Erben jetzt beinahe verklären, ihre Gegenwart mit denselben Worten kritisiert.
Die offensichtliche Wahrheit ist, dass auch in den „goldenen“ siebziger Jahren bei weitem nicht alles wunderbar war. Viele der kulturellen, technologischen und auch ökonomischen Veränderungen, die seither geschehen sind, haben unser Leben reicher und bunter gemacht. Ohnehin lassen sich Prozesse tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels nicht zurückdrehen. Dass heute nur noch sehr wenige Menschen in den westlichen Gesellschaften ihr Geld mit Handarbeit in Fabriken verdienen, und immer mehr Menschen in den Dienstleistungsbranchen der Wissensgesellschaft tätig sind, ist eine schlichte Tatsache, ganz egal, ob man diesen Prozess für gut oder schlecht hält (alles in allem ist er für das Leben der Betroffenen eher gut). Solche Veränderungen haben ihre Auswirkungen auf die Ideale von Menschen, auf ihre Biografien, auf die Ziele, die sie sich in ihrem Leben setzen. Oft fallen diese Auswirkungen ambivalent aus: In vielerlei Hinsicht führen die meisten Menschen heute ein freieres und stärker selbstbestimmtes Leben; in anderer Hinsicht jedoch haben Atomisierung, -Entwurzelung, Überforderung und seelische Heimatlosigkeit zugenommen. So sind Menschen heute oft auf sich allein gestellt, wenn sie Solidarität benötigen würden; sie leben ein Leben als Einzelkämpfer, obwohl sie gerne mit anderen zusammenarbeiten würden.
Wir können nicht zurückkehren in eine verklärte Welt von vorgestern. Wir müssen in unserer Zeit unsere Welt verbessern. Das geht nicht, wenn wir der Sprache, den Ritualen und politischen Organisationsvorstellungen von vorvorgestern anhängen.
Wir müssen auf der Höhe unserer Zeit sein. Wir können unsere Gesellschaften zu gerechteren Gesellschaften machen, in denen alle Bürger faire Chancen haben, ein gelingendes Leben zu leben. Wir dürfen es nicht akzeptieren, dass manche ohne jede Hoffnung zurückbleiben oder bereits als geborene Verlierer ins Leben starten. Alle müssen die Möglichkeit haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, und niemand darf in Lebensverhältnissen gefangen sein, die chronische Armut mit Chancenlosigkeit und einer endlosen Kette an Demütigungen kombinieren. Wir müssen unsere Wirtschaft so organisieren, dass wir Prosperität mit Stabilität verbinden und die ärgsten Ungleichheiten abbauen, weil es sich in egalitären Gesellschaften einfach besser lebt. Die ewige Tretmühle der Konkurrenz verpestet das Leben aller. Wir müssen die Ökonomie in der Krise ohnehin ankurbeln, also sollten wir es auf eine Weise tun, die das Leben für uns und spätere Generationen besser macht – indem wir jetzt massiv in die ökologische Umrüstung unserer Lebenswelt investieren. Wir brauchen mehr Demokratie in der Demokratie, damit die Bürger sich nicht desinteressiert und angewidert abwenden, aber auch, damit das politische System aus der Geiselhaft der Privilegierten und ihrer Lobbys befreit wird. All das wäre, wie gesagt, kein „politisches Programm“ allein für die Unterprivilegierten, in deren engerem „materiellen Interesse“ es läge. Es ist ein lohnendes Ziel für alle Bürger und Bürgerinnen überall.
Der vorliegende Essay basiert auf dem Kapitel der beiden Autoren in dem kürzlich erschienen Buch „After
the Third Way: The Future of Social Democracy in Europe“, herausgegeben von Olaf Cramme und Patrick Diamond im Verlag I.B. Tauris, London 2012.