Forward!
Was ist aus „Amerikas Hoffnung“ (Berliner Republik 1/2008) geworden? Präsident Obamas Amtsführung wird von der Mehrheit der US-Bürger negativ gesehen: Seine Zustimmungsraten liegen seit November 2009 hartnäckig unter 50 Prozent. Auch in Europa ist die Ernüchterung über den einstigen Hoffnungsträger weit verbreitet. Die Begeisterung, mit der Barack Obama im Sommer 2008 in Berlin bejubelt wurde, liegt weit zurück. Statt Lobeshymnen über den einstigen Hoffnungsträger schreiben sehr besorgte Amerika-Kenner nun Bücher mit Titeln wie Der amerikanische Patient: Was der drohende Kollaps der USA für die Welt bedeutet (Josef Braml), Amerikas letzte Chance: Warum sich die Weltmacht neu erfinden muss (Christian Wernicke und Reymer Klüver) oder Was ist mit den Amis los? (Christoph von Marschall).
Im beginnenden Wahlkampf 2012 bläst Barack Obama zur Offensive: Mit Forward (Vorwärts!) setzt er auf einen Slogan, der Sozialdemokraten nicht unbekannt ist. Aber entwickelten sich die Vereinigten Staaten von Amerika unter Obama tatsächlich nach vorn? Wurden die Hoffnungen der Wähler auf den 2008 angekündigten change erfüllt? Ist von einer weiteren Amtszeit Fortschritt zu erwarten? Schon in früheren Zeiten wurden aus bloßen Hoffnungsträgern große Präsidenten. Abraham Lincoln, der das Amt des Präsidenten in stürmischen Zeiten antrat, wurde den hohen Erwartungen an ihn gerecht, ja, er übertraf diese sogar, als er sein junges Land vor der Spaltung bewahrte und nach dem Bürgerkrieg einte. Er reifte zur legendären Führungsfigur, als welche ihn Walt Whitman in dem berühmten Gedicht O Captain! My Captain! huldigte, und ist bis heute der beliebteste Präsident der USA.
Barack Obama bemüht hartnäckig den Mythos seines Vorbildes: 2007 verkündete er seine Präsidentschaftskandidatur in Springfield – jener Stadt, in der Lincoln sechzehn Jahre lebte, bevor er Präsident wurde. Obama imitierte zu seiner Amtseinführung Lincolns Zugfahrt von Philadelphia nach Washington. Und als er in Lincolns 200. Geburtsjahr im Januar 2009 seinen Amtseid als 44. Präsident der Vereinigten Staaten leistete, legte er seine Hand auf Lincolns Bibel. Auch in seinem Führungsstil ahmt Obama sein erklärtes Vorbild nach, der einst seine ärgsten Rivalen in Schlüsselpositionen berief. Obamas erstes Kabinett war ebenfalls ein Team of Rivals, wie die Historikerin Doris Kearns Goodwin Lincolns Präsidentschaft betitelte. So berief Obama beispielsweise Hillary Clinton zur Außenministerin, nachdem er zuvor monatelang mit ihr auf das Schärfste um die Kandidatur gekämpft hatte. Auch bei seiner Amtsführung orientiert sich der 44. Präsident an Lincoln: Er ist stets um Konsens bemüht und holt sich Meinungen von allen Seiten ein.
Seit Roosevelt hatte es keiner so schwer
Allerdings könnten die Umstände für erfolgreiche Politik kaum widriger sein als gegenwärtig: Die USA erlebten bei Obamas Amtsantritt die schwerste Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise seit achtzig Jahren, eine dramatisch steigende Arbeitslosigkeit, die Pleite der Automobilindustrie, massenhafte Zwangsversteigerungen von Immobilien sowie die Kriege im Irak und in Afghanistan. Der amerikanische Regisseur Davis Guggenheim hat über den dramatischen Winter 2008/2009 den Kurzfilm The road we’ve traveled gedreht. Darin erinnert Tom Hanks als Sprecher: „Seit Franklin D. Roosevelt, der die USA durch die große Depression und den Zweiten Weltkrieg lenkte, hat auf den Schultern keines Präsidenten eine so schwere Herausforderung gelastet.“
Neben der schwierigen wirtschaftlichen und außenpolitischen Lage erschwerte die Blockadepolitik der Republikaner Obamas Amtsführung. In der Wahlperiode 2009 bis 2011 gab es im Senat weit mehr „Filibuster“ als je zuvor, eine Taktik zur Verzögerung von Entscheidungen, die nur eine Mehrheit von mindestens 60 der hundert Senatoren auflösen kann. Längst geht es der Republikanischen Partei geradezu obsessiv darum, die Präsidentschaft Obamas mit allen Mitteln auf eine Amtszeit zu begrenzen, um „Amerika vor dem Sozialismus zu bewahren“. Die Republikaner kämpfen gegen ein Zerrbild Obamas, das bei ihnen noch mehr Abneigung hervorruft, als es jemals George W. Bush umgekehrt bei den Demokraten vermochte.
Dennoch: Was Barack Obama unter den schwierigen Rahmenbedingungen in den letzten drei Jahren auf den Weg gebracht hat, übertrifft die Leistungen der meisten seiner Vorgänger bei weitem. Innenpolitisch ist die Gesundheitsreform sein bedeutendstes Projekt: Erklärt der Supreme Court im Frühsommer die Reform für verfassungskonform, hat Barack Obama erreicht, woran über acht Jahrzehnte hinweg demokratische wie republikanische Präsidenten von Roosevelt, über Richard Nixon bis Bill Clinton scheiterten: So gut wie jedem Amerikaner eine erschwingliche Krankenversicherung zu garantieren. Für mehr als dreißig Millionen vorwiegend geringverdienende Amerikaner würde das Affordable Care-Gesetz verlässlichen Schutz und größere Sicherheit bieten. Damit hätte Obama die wichtigste Reform seit den Bürgerrechtsgesetzen in den 1960er Jahren durchgesetzt und würde zu Recht in die Geschichtsbücher eingehen.
Zu Obamas Erfolgen zählen die gigantischen Konjunkturpakete, die er bereits in den ersten Amtstagen schnürte und die einen der größten wirtschaftlichen Stimuli in der Geschichte der USA darstellten. Auch die Rettung der Autoindustrie zu Beginn der Rezession zählt zu den Verdiensten Barack Obamas: Er bewahrte die angeschlagenen Autobauer General Motors und Chrysler vor dem Bankrott und damit über eine Million Amerikaner vor der Arbeitslosigkeit. Die Profitabilität, welche die Unternehmen bereits ein Jahr später wieder erreichten, zeigten die Vorzüge eines aktiv handelnden Staates auf – Mitt Romney und die Republikaner hatten die Sanierung der Konzerne mit staatlicher Hilfe strikt abgelehnt.
Was Obama trotz allem geschafft hat
Im Ausland kaum bekannt sind innenpolitische Leistungen, beispielsweise auf dem Gebiet der Bildungspolitik: Aufgrund von Reformen bei der Kreditvergabe und zusätzlicher Milliarden für Studenten aus einkommensschwachen Familien wird der Universitätsbesuch wieder bezahlbar. Die Maßnahmen sollen den stark gestiegenen Studiengebühren und der immensen Verschuldung der Absolventen entgegenwirken und zielen besonders auf Kinder von Geringverdienern ab. Für sie ist ein College-Abschluss wieder eine erreichbare Möglichkeit. Mut zeigte Präsident Obama zudem, als er das Verbot für amerikanische Soldaten abschaffte, homosexuelle Orientierungen zu offenbaren („Don’t ask, don’t tell“) und sich kürzlich auch für gleichgeschlechtliche Ehen aussprach.
So bedeutend die Errungenschaften Obamas auf dem Gebiet der Innenpolitik sind, so wenig spür- und sichtbar sind sie mitunter zum jetzigen Zeitpunkt: Die Gesundheitsreform greift erst 2014, die angestoßenen Umstrukturierungen im Finanzsektor zeigen erst allmählich Wirkung. Das ist in der Außenpolitik anders. Amerikas Ansehen in der Welt hat sich unter Obama offenkundig verbessert. Als größter Erfolg kann die mit der Tötung Osama Bin Ladens eingetretene Schwächung des Al-Qaida-Terrornetzwerkes gelten. Zehn Jahre lang hatte die amerikanische Regierung keine Spur vom Staatsfeind Nummer Eins – dann spürte ihn die CIA auf. Mit seiner dramatischen Entscheidung, Bin Laden durch ein Team der Elitetruppe Navy Seals zu fassen (und nicht etwa das Gelände aus der Luft zu bombardieren), bewies Obama Entschlossenheit. Denn der Einsatz in Pakistan bot ausreichend Gelegenheit zum Scheitern. 1979/80 hatte eine ähnlich riskante Situation, die misslungene Befreiung der amerikanischen Geiseln in Teheran, den damaligen Präsidenten Jimmy Carter entscheidungsschwach gezeigt und seine Wiederwahl missglücken lassen.
Eines von Obamas Wahlversprechen 2008 war es, keinen neuen Krieg zu beginnen, sondern die beiden zu beenden, denen bis heute neben zehntausenden Irakern und Afghanen auch über 6000 Amerikaner zum Opfer gefallen sind. Mehr als sieben Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins verließen im August 2010 die letzten amerikanischen Kampftruppen den Irak. Der Truppenabzug in Afghanistan hat begonnen und soll in der ersten Hälfte des Jahres 2013 abgeschlossen werden. Auch in seiner Annäherung an die islamische Welt und an Russland hat Obama Größe bewiesen. Gewiss, seine Rede in Kairo 2009, in der er der Arabischen Welt symbolisch die Hand reichte, und das Abrüstungsabkommen New Start Treaty mit Russland im Jahr darauf müssen ihre Tauglichkeit und Tragfähigkeit erst beweisen. Doch mit seiner multilateralen Politik, dem Versuch, auf antiamerikanische Nationen zuzugehen sowie seiner Vision einer atomwaffenfreien Welt hebt sich Obama nicht nur von seinem Vorgänger, George W. Bush, sondern auch von John McCain ab, seinem Widersacher im Wahlkampf 2008, der in der Außenpolitik sicherlich andere Prioritäten gesetzt hätte.
Gleichwohl ist auch die Liste der Niederlagen und ausstehenden Aufgaben lang. Barack Obamas neuer Herausforderer Mitt Romney fragt die Besucher seiner Wahlkampfveranstaltungen: „Was haben wir nach dreieinhalb Jahren unter Präsident Obama vorzuweisen? Kommen Sie heute besser über die Runden? Ist es leichter für Sie, Ihr Haus zu verkaufen oder ein neues zu erwerben? Konnten Sie genug für den Ruhestand zur Seite legen? Verdienen Sie heute mehr? Haben Sie Aussichten auf einen besseren Job? Bezahlen Sie an der Zapfsäule weniger?“ Ehrlicherweise antwortet Average Joe, der Durchschnittsamerikaner, auf die meisten Fragen mit Nein. Genau das illustriert die größten Probleme in Obamas Regierungszeit.
Die Arbeitslosenquote liegt mit 8,1 Prozent derzeit genauso hoch wie bei Obamas Regierungsantritt. Daneben bluten die öffentlichen Haushalte aus: Während viele in den USA mit Schadenfreude auf die Eurokrise schauen, tickt gleichzeitig in Washington eine gewaltige Zeitbombe namens Haushalt. Zum Jahresende, also wenige Wochen nach der Wahl, laufen sowohl die Konjunkturpakete als auch die Steuersenkungen der Bush-Ära aus. Gleichzeitig tritt ein sogenannter sequester in Kraft, der vereinbart wurde, als sich Demokraten und Republikaner nicht auf einen Haushalt einigen konnten. Der Sequester würde den gesamten Bundeshaushalt linear um 8 Prozent beschneiden – das entspricht 100 Milliarden US-Dollar. Ein solcher Einschnitt könnte die fragile amerikanische Wirtschaft zurück in die Rezession stoßen.
Ein Ergebnis der schleppenden wirtschaftlichen Entwicklung ist die signifikant wachsende soziale Ungleichheit im Land. Die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich veranschaulicht der Gini-Koeffizient: Laut dieser Kennzahl sind in den USA Einkommen und Vermögen extrem ungleich verteilt. Auf ähnliche Werte kommen Länder wie Kamerun, Ruanda oder Uganda. Selbst China, wo das Einkommensgefälle seit Jahren eine Quelle politischer Instabilität ist, kann einen besseren Gini-Koeffizienten aufweisen. Als Obama noch eine Mehrheit im Kongress besaß, drängte er dort nicht energisch genug auf Reformen für mehr soziale Gerechtigkeit und solide öffentliche Finanzen. Selbst mit einer symbolischen Neuregelung, der Warren Buffett Rule, derzufolge Superreiche mindestens denselben Steuersatz wie Menschen mit mittlerem oder geringem Einkommen zahlen sollten, konnte sich Obama in der verhärteten Auseinandersetzung mit den Republikanern nicht durchsetzen. Im aktuellen Wahlkampf stehen daher erneut soziale Gerechtigkeit und Fairness im Fokus.
Als Versöhner ist Obama gescheitert
Auch den Umgang Obamas mit Bürgerrechten trifft Kritik: Der berüchtigte Patriot Act von George W. Bush wurde unter Barack Obama verlängert. Das Gefangenenlager in Guantánamo, das er binnen eines Jahres schließen wollte, ist weiter in Betrieb. Zwar wird dort nicht mehr gefoltert, dafür werden Terrorverdächtige nun häufig nicht mehr gefangen genommen, sondern von unbemannten Flugkörpern, so genannten Drohnen, in Pakistan und Afghanistan, Jemen und Somalia getötet. Keine Fortschritte kann Obama im Nahost-Konflikt verzeichnen, ebenso wenig in der Umweltpolitik.
Mit seinem wichtigsten übergreifenden Versprechen ist Präsident Obama gescheitert: dem Anspruch, einen Ausgleich zwischen den politischen Lagern der gespaltenen amerikanischen Gesellschaft zu schaffen. Das war das Leitmotiv seines Buches Hoffnung wagen (Berliner Republik 3/2007). Obama wurde 2004 auf dem Bostoner Parteitag bekannt, als er erklärte: „Es gibt kein linkes Amerika. Es gibt kein rechtes Amerika. Es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika!“ Vielleicht hatte er bei der Formulierung wieder an sein Vorbild Lincoln gedacht: „Ein Haus, das in sich selbst gespalten ist, kann nicht bestehen“, hatte dieser 1858 in einem Aufruf zum Erhalt der Union gewarnt.
John Dingell, seit 1955 Abgeordneter im Repräsentantenhaus, sagte kürzlich, er habe in seiner politischen Laufbahn noch nie ein so vergiftetes Klima in Washington erlebt wie derzeit. An einer Versöhnung der politischen Lager wird Obama aller Voraussicht nach auch in einer weiteren Amtszeit scheitern. Diesen Graben wird wohl kein Präsident zuschütten können. Entsprechend schwer wird das Regieren im komplexen amerikanischen System der checks and balances, in dem überhaupt nur mit einem Mindestmaß an Kompromiss- und Konsensbereitschaft Ergebnisse erzielt werden können.
Warum Mitt Romney gewinnen könnte
Der Ausgang der Wahl vom 6. November 2012 ist schwer zu prognostizieren, wahrscheinlich ist eine erneut mit hauchdünner Mehrheit entschiedene Präsidentschaftswahl. Aus europäischer Sicht erscheint es kaum vorstellbar, dass der hölzerne Mitt Romney, der sich nur mit Mühe und Not gegen seine innerparteilichen Konkurrenten durchsetzen konnte, eine Mehrheit der Stimmen erhalten wird. Aber das Rennen ist offen, auch wenn die Geschichte lehrt, dass ein amtierender Präsident grundsätzlich gute Chancen hat, wiedergewählt zu werden. Ronald Reagan, Bill Clinton und George W. Bush bekamen jeweils zwei Amtszeiten im Weißen Haus. Begleitet jedoch eine schlechte Wirtschaftslage den Wahlkampf, dann schrumpfen die Aussichten auf eine Wiederwahl: Kein Präsident seit Franklin D. Roosevelt hat bei einer so hohen Arbeitslosenquote wie der jetzigen eine Wahl gewonnen.
Der Wahlausgang wird also wesentlich davon abhängen, ob sich die amerikanische Wirtschaft weiter erholt oder erneut einbricht. Hinzu kommen Unwägbarkeiten wie die Entwicklung des Erdölpreises, eine Verschärfung des Konfliktes zwischen Israel und Iran oder ein terroristischer Akt in den USA, die eine Prognose zusätzlich erschweren. Entscheidend wird sein, ob Barack Obama seine früheren Anhänger noch einmal mobilisieren kann: Gelingt es ihm, all jene, die normalerweise gar nicht oder nicht demokratisch gewählt haben und die er 2008 mit seiner Vision von einer neuen Politik von sich überzeugte, erneut zu begeistern? Kann er die Jungen, die Minderheiten und die Wähler in den strategisch wichtigen swing states mobilisieren? Schafft er dies, dann kann er in einer zweiten Amtszeit – unbesorgt um irgendwelche Wiederwahlperspektiven – einige der ungelösten Probleme angehen und seine Vision einer neuen Politik wieder mit Leben erfüllen. In dem Fall hieße es dann tatsächlich: Vorwärts! Es ist Obama und Amerika zu wünschen.