Mehr als eine Metapher
Im neuen Hamburger Programm der SPD ist die Idee des vorsorgenden Sozialstaats ein wesentlicher Pfeiler sozialdemokratischer Sozialstaatskonzeption. Einzelne Aspekte, auf die sich dieses Modell bezieht, sind seit den achtziger Jahren immer wieder diskutiert worden, wie beispielsweise das Prinzip der Aktivierung, Mindestsicherungselemente oder die infrastrukturelle Orientierung an skandinavischen Sozialstaaten. Gleichwohl entwickelt sich eine öffentliche Debatte über das Gesamtkonzept nur zögerlich, während die praktische Politik der Vorsorge auf manchen Gebieten bereits weiter fortgeschritten zu sein scheint.
Die Ungleichzeitigkeit zwischen dem politischen Diskurs und der politischen Praxis führt dazu, dass die Sprache des Politischen in Bezug auf die neuen Elemente der Sozialpolitik noch unterentwickelt ist. Eine intensive Debatte ist kein Selbstzweck, sondern kann in vieler Hinsicht dazu beitragen, die Aufmerksamkeit zu erhöhen und das Problem- und Lösungsbewusstsein zu schärfen. Fehlt solch eine Debatte, werden politische Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt.
Wir brauchen einen Sozialstaat, der Chancengerechtigkeit und Innovationen unter den Bedingungen der Wissensgesellschaft fördert. Der in zahlreichen Studien nachgewiesene enge Zusammenhang zwischen Herkunft und sozialem Aufstieg in unserem Land zeigt, dass die familiäre frühkindliche Erziehung allein keine ausreichende Chancengleichheit herzustellen vermag. Die Folgen sind bekannt: Kinder aus sozial schwachen Haushalten oder Einwandererfamilien erlangen überdurchschnittlich selten höhere Schulabschlüsse und sind aufgrund ihrer geringeren Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt schwerer vermittelbar.
Der vorsorgende Sozialstaat versteht sich als Antwort auf die evidente Legitimations- und Leistungsschwäche des eher nachsorgenden Sozialstaats. Er zielt darauf ab, früher und wirkungsvoller zu fördern, um spätere Probleme zu vermeiden oder zu reduzieren. Dabei sollte den Faktoren Infrastruktur und Steuern eine größere Bedeutung zukommen: Sozialpolitik muss sich wieder stärker als innovative Gesellschaftspolitik beweisen und auf strukturelle gesellschaftliche Veränderungen neue, eigene Antworten geben. Vor allem vier Politikfelder sind für den vorsorgenden Sozialstaat maßgeblich, die wiederum mit einer Vielzahl weiterer Faktoren vernetzt sein müssen:
Erstens brauchen wir eine veränderte Familienpolitik, die ja bereits von einem weichen, randständigen Themenfeld ins Zentrum eines neuen Zyklus gesellschaftlicher Planung gerückt ist. Geschaffen werden müssen tragfähigere Schnittstellen zwischen Familie und Beruf sowie mehr und bessere Betreuungsmöglichkeiten, damit die frühkindliche Förderung in wirklich allen Familien gewährleistet werden kann. Eine ähnliche Bedeutung kommt zweitens der Bildungspolitik zu, die schon in der frühkindlichen Phase gezielt ansetzen muss, um den Einzelnen so früh wie möglich zu fördern und damit Chancengleichheit zu gewährleisten. Die dritte Säule bildet die Gesundheitspolitik, die in den vergangenen Jahrzehnten vorsorgende Aspekte sträflich vernachlässigt hat und viel stärker als heute auf Prävention setzen muss. Das gerade verhängte Rauchverbot in Gaststätten ist vor diesem Hintergrund nicht zu unterschätzen. Viertens sollten sozialpolitische Anstrengungen wesentlich stärker auf eine aktive Einwanderungs- und Migrationspolitik konzentriert werden, deren Randständigkeit für einen Teil der sozialen Probleme in Deutschland verantwortlich ist.
Im Kern geht es darum, auf diesen Gebieten – Familien-, Bildungs- und Ausbildungs- sowie Gesundheits- und Integrationspolitik – die Infrastruktur qualitativ zu verbessern. Eine bessere Infrastruktur soll nicht nur die Startchancen gerechter verteilen, sondern auch zweite und dritte Chancen anbieten: Auch nach gescheiterten Versuchen der Integration in das Bildungs- und Arbeitsmarktsystem müssen Menschen wieder einsteigen können. Der Dreh- und Angelpunkt einer qualitativ hochwertigen Infrastruktur sind die in den Einrichtungen arbeitenden Experten. Sie entscheiden darüber, wer wie gefördert wird. Genau deshalb nimmt eine erfolgreiche Vorsorgepolitik in den Blick, wie die Erzieher, Sozialarbeiter, Lehrer, Fallmanager oder Pfleger ausgebildet und unterstützt, gratifiziert und anerkannt sind.
Beispielsweise werden viele deutsche Kindergärten – nicht zuletzt aufgrund der unzureichenden Ausbildung der Erzieher – den modernen Anforderungen frühkindlicher Erziehung nicht gerecht. Heute haben Erzieher vielfältige, anspruchsvolle Aufgaben wie die Betreuung größerer Gruppen aus Kindern verschiedener Kulturen, sie sollen Bildungsprozesse initialisieren und fehlende Unterstützung aus dem Elternhaus kompensieren. Daher muss für Erzieherinnen und Erzieher auch in Deutschland die Hochschulausbildung – in Europa weitgehend Standard – langfristig zur Norm werden. Bisher besitzen hierzulande ganze 4 Prozent der rund 360.000 Erzieher einen Hochschulabschluss.
Darüber hinaus könnte man mittels akademischer Zertifizierungen einem weiteren Problem entgegentreten: Trotz langer Ausbildungszeiten erhalten Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland bislang ein zu geringes Gehalt und zu wenig gesellschaftliche Anerkennung. Der Einstiegslohn einer kinderlosen Erzieherin mit einer Vollzeitstelle liegt bei 1.200 Euro netto; auch später steigt er auf kaum mehr als 1.500 Euro netto. Eine wesentliche Voraussetzung, um Ansehen, Leistungsfähigkeit und gesellschaftliche Unterstützung für diese zentralen sozialstaatlichen Akteure zu verbessern, ist neben einer veränderten Rekrutierungs- und Professionalisierungspolitik vor allem die finanzielle Honorierung dieser Tätigkeiten.
Hohe Ausgaben, mittelmäßige Wirkung
Auch in Zukunft wird der deutsche Sozialstaat primär über Beiträge finanziert werden. Ohne weitere Einnahmequellen zu erschließen und sich stärker über Steuern zu finanzieren, wird ein vorsorgender Sozialstaat jedoch nicht aufzubauen sein. Dieses Konzept setzt zwar darauf, durch den Ausbau von Prävention und Infrastruktur die Nachsorge zu reduzieren. Zunächst ist es jedoch keine billige Lösung, sondern mit durchaus kostspieligen Investitionen verbunden, die sich erst mittel- und längerfristig auszahlen werden. Der höhere Finanzaufwand muss solidarisch auf alle Schultern der Gesellschaft verteilt werden. Ist der vorsorgende Sozialstaat erfolgreich, dann ließe sich auch das qualitative Angebot des nachsorgenden Sozialstaates verbessern, weil dieser von bestimmten Kosten befreit wäre und sich mithin besser auf die wirklichen Problemfälle konzentrieren könnte.
Das Problem des deutschen Sozialstaats besteht nicht in einem zu geringen Niveau der Transferleistungen. Im Einzelfall mag das so sein, doch insgesamt liegen die finanziellen Leistungen auf den meisten sozialen Sicherungsfeldern in der internationalen Spitzengruppe, während zugleich die Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem deutschen Sozialsystem nur mittelmäßig ausfällt. Hohe finanzielle Ausgaben stehen also einer als mittelmäßig wahrgenommenen Wirkung gegenüber. Somit kann das vorrangige Ziel nicht darin bestehen, die monetären Einnahmen oder Ausgaben zu erhöhen. Vielmehr sollten wir verstärkt darüber nachdenken, wie eine höhere Qualität und bessere Wirkungen erreicht werden können. Die Antwort kann nicht lauten: höher, weiter und schneller.
Familienpolitik. Mittlerweile sind Schlagworte wie die demografische Entwicklung, rückläufige Geburtenzahlen, veränderte Erwerbstätigkeiten und neue, ausdifferenzierte Familienbilder politisches Allgemeingut. Allerdings hat der Sozialstaat auf diese neuen Realitäten noch keine hinreichenden familienpolitischen Antworten gefunden. Um in Deutschland tatsächlich das viel beschworene familienfreundliche Klima zu schaffen, ist es notwendig, ein aktives Agenda-Setting zu betreiben und vor allem institutionelle und infrastrukturelle Maßnahmen in den Vordergrund zu stellen. In den letzten Jahren lassen sich auf diesem Gebiet aber durchaus Verbesserungen erkennen. Beispiel Kinderkrippen: Bis zum Jahr 2013 wollen Bund, Länder und Kommunen bundesweit für rund ein Drittel der Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege schaffen. Dass die Aufgabe der Kindererziehung nicht mehr ausschließlich der Familie zugeschrieben, sondern die Verantwortung verschiedener Akteure betont wird, ist – besonders bei der CDU – mit einem regelrechten Paradigmenwechsel verbunden.
Mit umfangreicher Kinderbetreuung soll zum einen die Entwicklung gesellschaftlicher Kernfähigkeiten bei Kindern bereits vor der Einschulung sichergestellt werden. Zum anderen trägt diese institutionelle Erweiterung der derzeit unzureichenden Vereinbarkeit von Beruf und Kleinkindererziehung Rechnung. Auch die Einführung des Elterngelds sollte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken. Da fast jede anspruchsberechtigte Familie diese Leistung tatsächlich beantragt hat, ist das Elterngeld ein Erfolg. Dessen überraschende Popularität besonders unter Männern (rund 10 Prozent aller Antragsteller) hat dazu geführt, dass die ursprünglich veranschlagten Mittel für das Jahr 2007 in Höhe von 1,6 Milliarden Euro nicht ausreichten.
Ein weiterer sichtbarer Schritt in Richtung des vorsorgenden Sozialstaats ist der flächendeckende Ausbau von Mehrgenerationenhäusern. Zurzeit fördert der Bund 500 solcher Einrichtungen, mindestens eine in jedem Landkreis und jeder kreisfreien Stadt. Sie sind Anlaufstellen, Netzwerke und Drehscheiben für familienorientierte Dienstleistungen, Erziehungs- und Familienberatung.
Bildungspolitik. Ziel eines umfassenden Bildungskonzeptes muss es sein, dass die soziale und ethnische Herkunft nicht länger über die Zukunftschancen von Kindern entscheidet. Dabei sollten Reformen weniger als Systemfragen, sondern stärker als Förderungsfragen diskutiert werden. Entscheidend ist nicht primär die äußere Schulform, sondern die Qualität der Schule. Um die Herkunftszementierung endlich zu durchbrechen, muss die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes im Mittelpunkt stehen.
Bildung, Beschäftigung, Integration
Allerdings ist im bundesrepublikanischen Kontext stets die bildungspolitische Kompetenz der Länder zu berücksichtigten. Um das Bildungssystem erfolgreich zu modernisieren, bedarf es wirksamer Steuerungselemente. Die im Jahr 2006 eingeführte nationale Bildungsberichterstattung von Bund und Ländern zielt bereits in diese Richtung und liefert einen Überblick über die Entwicklung des gesamten deutschen Bildungswesens – von der frühkindlichen Förderung bis hin zur Weiterbildung im Erwachsenenbereich. Um einem nachhaltigen Konzept wie dem des vorsorgenden Sozialstaats gerecht zu werden, müsste dieses Berichtswesen erweitert werden.
In den vergangenen Jahren hat der Staat viel in den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen investiert: Der Bund stellt die Mittel in Höhe von 4 Milliarden Euro bereit, während den Ländern die Auswahl der Schulen und Schulformen, die inhaltliche Ausgestaltung und die Personalausstattung obliegen. Seit dem Jahr 2003 sind mehr als 6.400 Schulen – jede sechste allgemeinbildende Schule in Deutschland – als Ganztagsschule ausgebaut worden. Im Sinne frühkindlicher Förderung ist es besonders erfreulich, dass jede zweite geförderte Schule eine Grundschule ist.
Integrationspolitik. Auf dem Gebiet der Integrationspolitik existieren seit Jahrzehnten Probleme, zu deren Lösung der nachsorgende Sozialstaat schlicht nicht fähig ist. In Deutschland leben heute mehr als 15 Millionen Personen mit Migrationshintergrund, das ist fast ein Fünftel der gesamten Bevölkerung. Besonders auf den Feldern Bildung und Ausbildung gibt es erhebliche Unterschiede zwischen dieser großen Minderheit und der deutschen Bevölkerungsmehrheit. So haben deutlich mehr Jugendliche aus Einwandererfamilien (17 Prozent) als deutsche Jugendliche (7 Prozent) keinen ordentlichen Schulabschluss; zugleich erreichen weit weniger Jugendliche aus Einwandererfamilien (40 Prozent) einen mittleren oder höheren Schulabschluss als die deutschen Jugendlichen (70 Prozent). Rund 40 Prozent aller Jugendlichen mit ausländischem Pass bleiben zudem im Anschluss an die Zeit der Schulpflicht ohne jede weitere Ausbildung, aber nur 15 Prozent der deutschen.
Die Arbeitslosenquote von Menschen ohne deutschen Pass liegt immer noch fast doppelt so hoch wie die der deutschen Bevölkerung. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung konstatiert daher zu Recht: „Mit dieser Diagnose ist keineswegs nur ein arbeitsmarktpolitisches Problem angesprochen; verwiesen wird damit vielmehr auch auf die weitreichenden sozialen Folgeprobleme von niedrig qualifizierter Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und des damit einhergehenden Fehlens gesellschaftlicher Akzeptanz.“
Kürzlich erlebten wir eine intensive Debatte über die Kriminalität jugendlicher Einwanderer. Nach Einschätzung nahezu aller Fachleute trägt die Forderung nach härteren Strafen und der Verschärfung von Gesetzen nicht zur Lösung bestehender Probleme bei. Stattdessen haben besonders Bildung und die damit verbundenen Aufstiegschancen gerade für Jugendliche aus eingewanderten Familien eine zentrale Bedeutung, denn zwischen Bildungsstand und Kriminalitätsniveau besteht ein direkter Zusammenhang. So konnte nachgewiesen werden, dass in einigen Städten wie beispielsweise Hannover der Rückgang türkischer Jugendlicher an Hauptschulen mit einem Absinken der Kriminalität in dieser Gruppe einherging. In München hingegen, wo der Anteil türkischer Jugendlicher an Hauptschulen nach wie vor hoch und an Gymnasien sogar zurückgegangen ist, gab es einen Anstieg der Gewalttaten in dieser Gruppe. „Entscheidend ist also die Bildungsintegration“, sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer. „Dort, wo sie gut vorangekommen ist, wo wir den jungen Türken das Signal geben ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘, dort nutzen sie diese Chancen auch und werden deutlich weniger auffällig. Bessere Bildungsintegration senkt also Jugendgewalt.“
Die Bundesregierung hat mit dem im Juli vergangenen Jahres vorgestellten Nationalen Integrationsplan auf dem Feld der Einwanderungspolitik einen neuen Schwerpunkt gesetzt. „Standen über lange Zeit vorrangig der formale Zugang zum Arbeitsmarkt und Fragen der rechtlichen Gleichstellung ... im Mittelpunkt der Debatte, so hat ... eine Verschiebung hin zur Integration durch Bildung, berufliche Qualifikation und durch den Erwerb deutscher Sprachkenntnisse stattgefunden“, heißt es. Genannt sei an dieser Stelle die zentrale Bedeutung des Faktors Arbeit, denn nachweisbar gelingt Integration „am besten dort, wo Menschen aus Zuwandererfamilien aktiv im Erwerbsleben stehen“.
Arme Menschen sterben früher, reiche Menschen leben gesünder
Gesundheitspolitik. In allen Gesellschaften zeigt sich, dass Gesundheit mit den materiellen Lebensverhältnissen von Menschen zu tun hat. Arme Menschen sterben früher, reiche Menschen leben gesünder. Ein allgemeines Ziel sollte deshalb die Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse sein. Eine vorsorgende Gesundheitspolitik besteht aus einem positiven Zusammenspiel zwischen einem solidarischen System und einem verantwortlichen Umgang mit der eigenen Gesundheit, was eine entsprechende Lebensführung voraussetzt. Es geht also darum, Präventionspotenziale optimal zu nutzen; gezielte Hilfe und Information zu gesundheitsförderlichem Verhalten müssen verstärkt als staatliche Aufgabe verstanden werden. Zwar sind auch in diesem Politikfeld derzeit politische Anstrengungen zu erkennen, präventive Maßnahmen zu stärken. Diese müssten allerdings von deutlich höheren Investitionen in infrastrukturelle Projekte begleitet werden. Außerdem könnte man gesunde Lebensführung in den Unterricht einfließen lassen und damit Prävention gerade in Kindergärten und Schulen weiter institutionalisieren, so dass Kinder einen lernenden Umgang mit der Pflege der eigenen Gesundheit entwickeln können.
Institutionalisierung bedeutet selbstverständlich auch verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen für Kinder. So können bei allen Kindern frühzeitig Störungen der körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung erkannt und entsprechend behandelt werden. Ferner steht die Gesundheitspolitik aufgrund des Wandels der Arbeitswelt vor neuen Herausforderungen. Die Verschiebung von körperlicher zu zunehmend psychischer Arbeitsbelastung erfordert auch einen neuen beruflichen Präventionsgedanken im Umgang mit Stress oder Burnout-Syndromen.
Wer darüber nachdenkt, wie der Sozialstaat weiterentwickelt werden kann, muss die Transformation der Arbeitsgesellschaft mit bedenken. Seit Jahren wird die primäre Finanzierung des Sozialstaates über die Erwerbsarbeit schwächer, während zugleich die Probleme wachsen, die durch den Wandel der Arbeitsgesellschaft geschaffen werden. In Deutschland empfangen über 1,3 Millionen Menschen das Arbeitslosengeld II. Hinzu kommt, dass Erwerbstätigkeit zunehmend nicht mehr verlässlich vor Armut schützt. Befristete Beschäftigungsverhältnisse und diskontinuierliche Erwerbsbiografien schwächen die dauerhafte und sichere Integration in den Arbeitsmarkt stark ab. Doch längst haben wir ein neues Verständnis von Vollbeschäftigung, das nicht mehr auf die unbefristete, männliche, eine ganze Familie ernährende Erwerbsarbeit konzentriert ist. Der Wechsel zwischen verschiedenen Erwerbsphasen und Einkommenskonzepten ist vom Einzelfall zur prekären Normalität geworden. Gleichwohl ist damit die Norm der Erwerbsarbeit nicht abgeschwächt, sondern gestärkt worden. Weil die Integration in den Arbeitsmarkt zum zentralen Maßstab geronnen ist, sprechen viele Beobachter von einem workfare-Staat. In Wirklichkeit sind die sozialpolitischen Steuerungsinstrumente noch keinesfalls auf diese Norm eingestellt, was man schon daran sehen kann, dass nach wie vor umfassende Mindestlohn- oder Flexicurity-Konzepte fehlen.
Laut der Studie Gesellschaft im Reformprozess der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2006, der die „Unterschichtdebatte“ folgte, gelingt es dem deutschen Sozialstaat nicht, alle Menschen gesellschaftlich zu integrieren. Die Autoren bezeichneten acht Prozent der Bevölkerung als „abgehängtes Prekariat“. Das Leben der Menschen in diesem Milieu ist einerseits von hoher Arbeitslosigkeit, andererseits von starker beruflicher Unsicherheit gekennzeichnet. Die gesamte Lebenssituation wird als prekär empfunden und die Menschen haben große Zukunftssorgen, was zu starker gesellschaftlicher Desorientierung führt.
Passive Alimentierung der „Überflüssigen“ als Antwort?
Die Antwort auf diese Phänomene sollte nicht in der passiven Alimentierung derjenigen bestehen, die derzeit keinen Platz in der Erwerbsgesellschaft finden. Im Gegenteil muss die Integration in die Arbeitsgesellschaft weiter angestrebt werden. Für viele Langzeitarbeitslose kann es schwierig oder gar zu spät sein, weshalb für sie andere Formen der Unterstützung gefunden werden sollten, die ihrer Lebenssituation entsprechen. Grundsätzlich aber muss für den vorsorgenden Sozialstaat die Integration in die Erwerbsarbeit einen zentralen Bezugspunkt bilden. Schließlich existiert momentan kein anderes Institut, dass vergleichbare gesellschaftliche Binde-, Sinn- und Anerkennungsbezüge herstellen könnte.
Derzeit wird die – mittlerweile sehr alte – Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen wieder mit neuem Elan geführt. Die Befürworter dieses Konzepts stellen mehrere Thesen auf: So sei der lohnarbeitszentrierte Sozialversicherungsstaat überholt, da Vollbeschäftigung ganz offensichtlich nicht mehr möglich sei. Deshalb sei auch die Erwerbszentrierung des Sozialstaats bei verfestigter Massenarbeitslosigkeit sozial ungerecht. Des Weiteren sei Beschäftigung kein Medium der Vergesellschaftung und Inklusion mehr, da selbst Beschäftigte nicht automatisch voll gesellschaftlich integriert seien und die steigende Zahl befristeter, niedrig entlohnter und wechselnder Beschäftigungsverhältnisse häufig nur eine prekäre Form der Lebensführung und -existenz zuließen. Obendrein sei das Projekt eines bedingungslosen Grundeinkommens kulturrevolutionär, weil es den Zwang zur Arbeit abschaffe, Bürokratie abbaue und soziale Gerechtigkeit auf der Basis von Wahlmöglichkeiten fördere.
In Wahrheit ist dieses Projekt eher gefährlich als verheißungsvoll. Denn Erwerbsarbeit ist mehr als nur Geldverdienst. Sie hat immer mit Anerkennung und Beteiligung zu tun. Arbeit bedeutet Entfaltung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie trägt zudem zur Bildung persönlicher und sozialer Identität bei, indem Selbstachtung und Achtung durch andere entwickelt werden. Solange Erwerbstätigkeit eine derart entscheidende Rolle für den Einzelnen und für den Zusammenhalt der Gesellschaft spielt, wäre es fatal, die politische Suche nach neuen Strategien für Vollbeschäftigung durch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zu delegitimieren.
Zudem würde so das Prinzip der Aktivierung und der Vergesellschaftung der Menschen durch Partizipation am Erwerbsleben aufgegeben und die Verantwortung an die im Erwerbsleben stehenden „Netto-Zahler“ delegiert. Sie hätten mit dem steuerfinanzierten Grundeinkommen eine „Stilllegungsprämie“ für die von der Politik zur Alimentierung bestimmten Teile der Gesellschaft zu leisten. Die gesellschaftliche Stigmatisierung des „Transferempfängers“ würde also gerade nicht aufgehoben; durch neue Abhängigkeitsverhältnisse würde an seine Stelle schlicht der „Netto-Empfänger“ treten.
Des Weiteren zeichnet sich das Konzept durch seine Eindimensionalität aus. Zwar gewährt es – je nach Modell – eine mehr oder minder verbesserte materielle Grundlage für das untere Drittel der Gesellschaft. Doch das bedingungslose Grundeinkommen resultiert nicht in einer mehrdimensionalen, tatsächlichen gesellschaftlichen Teilhabe, sondern es ermöglicht allein die Teilhabe am Konsum. Somit birgt es nur auf den ersten Blick Inklusionspotenzial. Und aufgrund der Kategorien „Netto-Zahler“ und „Netto-Empfänger“ schafft die Idee neue Impulse der Gruppenbildung und -schließung. Unter diesen Bedingungen erscheint ein bedingungsloses Grundeinkommen als ein Exklusionskonzept, auch wenn seine Befürworter dies sicherlich nicht intendieren.
Ein „Vorsorge-Index“ als Kompass
Angesichts abnehmender Bevölkerungszahlen und massiver Fehlentwicklungen in der sozialen Durchlässigkeit wäre eine Stilllegungsprämie genau das falsche Instrument, um soziale Mobilität zu erhöhen. Im Zentrum aller Anstrengungen muss die Befähigung des Individuums stehen, und nicht seine Alimentierung. Der Faktor Arbeit sollte als Arena der Gestaltung begriffen werden, er allein ermöglicht Aktivierung und gesellschaftliche Integration. Die Einführung eines Grundeinkommens als reine Transferzahlung widerspricht diesem Leitbild vehement und ist daher entschieden abzulehnen. Stattdessen sollte darüber diskutiert werden, wie Elemente der Mindestsicherung in bestehende Strukturen des Sozialstaats verankert werden könnten – aber eben unter Beibehaltung des Ziels der Erwerbstätigkeit.
Träger einer erweiterten und verbesserten sozialstaatlichen Infrastruktur sind einerseits Bund, Länder und Kommunen, andererseits aber auch zivilgesellschaftliche Akteure wie Vereine, Verbände und in einzelnen Fällen auch Unternehmen und Privatpersonen. Zwischen diesen Ebenen und Akteuren sollte eine funktionale und positive Arbeitsteilung bestehen, aber auch ein Wettbewerb um die besten Konzepte und Wirkungen vorsorgender Sozialpolitik stattfinden. Diese sollten in der Form eines „Vorsorge-Index“ gemessen und öffentlich thematisiert werden.
Bei dem hier vorgeschlagenen Vorsorge-Index geht es darum, einen Indikator zu entwickeln, der den Weg hin zu einem vorsorgenden Sozialstaat besser diskutierbar und gestaltbar macht. Der Vorsorge-Index ist also ein Kompass. Er müsste harte, messbare Indikatoren erfassen. Zudem sollte es Arenen geben, in denen diese Indikatoren qualitativ evaluiert werden können. Nur wenn es gelingt, einen substanziellen Diskurs auf quantitativer und qualitativer Basis zu organisieren, wird die Metapher vom vorsorgenden Sozialstaat ein harter Orientierungspunkt der Sozialstaatsdebatte. Genau dies ist aber notwendig, um aus dem Tal der Beliebigkeit herauszukommen und die großen sozialpolitischen Herausforderungen ernsthaft anzugehen.
Mithilfe einer Vorsorge-Berichtserstattung könnte konstant und rechtzeitig über Prozesse, Voraussetzungen und Konsequenzen sozialpolitischer Maßnahmen informiert werden. Zugleich ließen sich Schlüsse über Fort- oder Rückschritte vorsorgender Politik ziehen. Als modernes Steuerungsmodell kann ein solches Berichtswesen die Erfolgskontrolle vorsorgender Sozialpolitik sicherstellen. Der Vorsorge-Index wäre die Schnittstelle zwischen Planungskonzepten auf der einen und Sozialberichterstattung auf der anderen Seite.
Auch auf dem Gebiet der Bildungspolitik könnte der Vorsorge-Index hilfreich sein. Traditionell ist das Thema Bildung nicht Bestandteil der deutschen Sozialstaatsdebatte, die sich traditionell auf die Sozialversicherungen konzentriert. Eine Debatte über den vorsorgenden Sozialstaat darf die Bildungspolitik und ihre föderalistischen Dimensionen nicht länger ausklammern. Aber wie kann es gelingen, die konkurrierende Trägerschaft von Bildung und Kindererziehung zum Ausgangspunkt zu machen, um einen „Qualitätsföderalismus“ anzustacheln? Der Vorsorge-Index könnte ein Mittel sein, um hier vorbildliche Regelungen zu identifizieren.
Kurzum: Der Vorsorge-Index müsste ein Messinstrument sein, anhand dessen sich ein Bild vom Vorsorgecharakter des Sozialstaates entwickelt. Um ein verlässsliches Indikatorensystem zu etablieren, wäre eine Reihe von Expertendebatten notwendig. In den siebziger Jahren gab es einmal ein ähnliches Projekt, das sich mit Sozialindikatoren befasste, die herangezogen werden müssten, um den Beitrag der Sozialpolitik für die Förderung von Lebensqualität zu begründen. Daran könnte angeknüpft werden, auch wenn die großen Herausforderungen damals andere waren. Ebenso denkbar wären internationale Bezüge zu den Sozialstaaten, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind und ähnliche Ausgangslagen besitzen: Österreich, die Niederlande, aber auch die nordischen Staaten.
Warum Sozialpolitik klare Ziele und lange Linien braucht
Notwendig sind heute längerer Planungshorizonte. Denn die großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie der demografische Wandel, die Bildungsarmut, die Integration von Einwanderern und weitreichende Exklusionserfahrungen lassen sich durch politische Ad-hoc-Maßnahmen nicht lösen. Gewiss sind Reformen aus einem Guss derart voraussetzungsvoll, dass ihr Gelingen höchst unwahrscheinlich ist. Dennoch: Sofern wir nicht Gefangene in der „Politikverflechtungsfalle“ bleiben wollen, müssen neue Anstrengungen unternommen werden, um soziale Planung wieder zu einem Thema zu machen. Dabei geht es durchaus nicht um die Wiederholung von Planungspolitik aus der Vergangenheit, sondern darum, neue und moderne Planungskonzepte zu entwickeln, die mit bestehenden, dezentralen Strukturelementen verbunden werden, um Aktivierung und Vorsorge zu verwirklichen.
Gut erkennbar ist der Wille zum Denken in längeren Linien im unionsgeführten Familienministerium. Weniger stark ist er im Gesundheitsministerium ausgeprägt oder im Arbeitsministerium unter Franz Müntefering vorhanden gewesen. Um veränderte Lebenslagen zu gestalten und die gesellschaftlich-individuelle Lebensqualität zu verbessern, braucht es aber profilierte Pläne und Programme. Notwendig ist die grundsätzliche Abkehr von einer rein situativen Problemorientierung, die bislang zu keiner nachhaltigen Sozialpolitik geführt hat – und dazu zukünftig immer weniger im Stande sein wird. Vielmehr sollte sich Politik zu klaren konzeptionellen Zielen bekennen, die als Kompass im Labyrinth des politischen Stückwerks dienen. Es geht darum, einen neuen Zyklus langfristiger Steuerungs- und Planungsprozesse zu initiieren. Genau diesem Erfordernis trägt das übergreifende Konzept des vorsorgenden Sozialstaats Rechnung.