Nachts sind alle Würste grau

Was Berliner Politikpraktikanten und Herr Bier vom Grundgesetz halten

Dienstagabends mischt sich in der Politkneipe Wahlkreis das Stammpublikum mit den Besuchern des Praktikantenstammtisches. Diese sind in der Regel an den deutlich konservativeren Anzügen zu erkennen. Die Generation Praktikum hat sich in Schale geschmissen, als wäre sie nicht beim Feierabendbier, sondern beim McKinsey-Recruiting. Ein wenig verkleidet wirkt das, ein Hauch von Abi-Ball liegt in der Luft. Dort fühlte man sich ja auch nicht so richtig wohl in der ungewohnten Kleidung.

Wir bestellen ein Praktikantengedeck (ein Gezapftes und ein Kurzer) und lauschen den Gesprächsfetzen über Büroalltag, Auslandsaufenthalte und Abschlussarbeiten. Wir warten ab, bis die Gespräche etwas weniger dienstlich werden und beginnen dann mit unserem Thema des Abends: Wir möchten ein Stimmungsbild über unseren diesjährigen Jubilar erstellen. Was bedeuten 60 Jahre Grundgesetz für die ambitionierten Young Professionals? Und wie sollte das Jubiläum angemessen gefeiert werden?

Matthias hat seine Krawatte gelockert und findet das Grundgesetz „wahnsinnig gut“. Da hätten sich ein paar kluge Köpfe in einem zerstörten Land in wenigen Monaten etwas ausgedacht – und das hält bis heute. Stefan ist anderer Meinung. Er nippt an einer Bionade und erläutert dann, das zu viel „rumgedoktert“ worden sei. Mit jeder Änderung und Ergänzung sei der Text dann weniger elegant geworden. Die amerikanische Verfassung sei in mehr als 200 Jahren seltener geändert worden als das Grundgesetz in 60 Jahren. Er war nämlich gerade in den Vereinigten Staaten, und der dortige Verfassungspatriotismus hat ihn schwer beeindruckt: „So was wäre hier auch schön.“

Eine weitere Kontroverse tut sich auf. Thomas möchte, dass das Grundgesetz in jedem Bücherregal steht. „Das müsste jeder kostenlos bekommen können.“ David wirft ein, man könne es doch schon kostenlos bestellen, was allein jedoch wenig nütze. Stattdessen müsse mehr über die Inhalte und Ideen des Grundgesetzes „aufgeklärt“ werden.

Über die Kosten machen sich auch drei Praktikantinnen aus dem Agenturenmilieu Gedanken, die in Proseccolaune sind. Mia überlegt, wie man das Jubiläum am besten „celebraten“ sollte. „Dabei ist vor allem wichtig, dass alles for free ist. Denn die Leute zahlen für so etwas ja nothing, zero, nada.“ GG-Party, Roadshow zu den Grundrechten, Newsletter über das Verfassungsgericht – vieles sei denkbar, aber alles möglichst for free. So viel Kostenbewusstsein würde jedem Haushälter zur Ehre gereichen. Wir wenden uns aber doch lieber wieder anderen Fragen zu.

Die Grundrechte kommen sowieso gut an

Nico betont den Fortschritt in der deutschen Verfassungsgeschichte. „Die Grundrechte sind nun einklagbar.“ Der Jurastudent referiert, in welchem Artikel das steht und dass das in der Weimarer Verfassung noch nicht möglich war. Nun müsse der nächste Schritt kommen: Er plädiert dafür, das Grundgesetz um Volksentscheide zu erweitern.

Die Grundrechte kommen sowieso gut an, fast jeder der Befragten hebt sie hervor. Auch Volksentscheide erfreuen sich großer Beliebtheit unter den jungen Menschen – einige Bedenkenträger sind die Ausnahme. Und das Thema Europa wird immer wieder angesprochen. Melanie findet, eine nationale Verfassung sei nicht mehr zeitgemäß. Heute müsse man alles globaler denken. Grundrechte sollten ja nicht nur für Bundesbürger, sondern möglichst für alle gelten. Melanie stört es zudem, dass immer nur von den Vätern des Grundgesetzes die Rede ist. Schließlich habe es auch Mütter des Grundgesetzes gegeben. Wenn die sich nicht gegen den Widerstand von älteren Herren durchgesetzt hätten, dann wäre in Artikel 3 nicht die Gleichberechtigung von Männern und Frauen festgeschrieben worden.

Und was meint das Volk?

Grob lassen sich die Meinungen der Praktikantenschar zum Grundgesetz in drei Lager teilen: Juristen bekommen leuchtende Augen. Wirtschaftswissenschaftler grübeln über das Eventmanagement zur Jubiläumsfeier. Und Sozialwissenschaftler haben immer irgendetwas am Grundgesetz auszusetzen, obwohl sie es eigentlich ganz okay finden.

Thomas gehört zu der Fraktion mit den leuchtenden Augen und ist zuversichtlich. Die meisten Bürger der Bundesrepublik wüssten nicht, wo genau ihre Grundrechte geschrieben stehen, hätten aber dennoch wegen des Grundgesetzes das Gefühl, ihre Freiheit und ihre sozialen Rechte seien garantiert. Ob die Bürger das wirklich spüren, wollen wir gleich mal testen. Außerdem meldet sich der kleine Hunger. Bürger und Nahrung finden wir fußläufig im Bier, der Currywurstschmiede unter dem S-Bahnhof Friedrichstraße. Der Name „Bier“ leitet sich übrigens nicht vom Lieblingsgetränk der Stammkundschaft ab. Der Besitzer des Imbissladens heißt tatsächlich so. Hier hat Kanzler Schröder sich angeblich seine C-Wurst holen lassen. Das bürgt für Qualität, die aber nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Nachts sind alle Würste grau. Kurt, der Mann am Tresen, angelt zwei friteusenglasierte Albinopimmel vom Grill, ertränkt sie in Tomatensauce und bepudert sie mit Currypulver. Optisch naja, aber: lecker! Wir sind zufrieden mit unserem Kanzlerfilet.

Im Kühlschrank steht eine veritable Auswahl an edlen Schaumweinen (verschiedene Sekt- und Champagnermarken, Piccolo ab 7 Euro, Flaschen ab 51 Euro). Kurt erläutert, dass die Flaschen tatsächlich gekauft werden, allerdings fast immer nur außer Haus. Wir entscheiden uns bodenständig für Schultheiss – und erinnern uns daran, dass wir hier Thomas’ Hypothese von den grundgesetzfühlenden Bürgern testen wollten. Da wir zunächst die einzigen Gäste sind, versuchen wir es beim Currywurstschmied. Der war deutlich gesprächiger, als es um Schampus ging und gibt sich nun wortkarg. Immerhin ist ihm zu entlocken, dass das Grundgesetz besser ist als das, was es vorher gab.

„Es hakt halt an der Umsetzung“

Hans, ein neuer Gast, ist gesprächiger. Allerdings mehr über sich selber und sein Leben. Er ist jetzt Rentner und schaut auf ein bewegtes Leben zurück. Maurer, auf der Straße gelebt, Fremdenlegion. Sagt er. Für journalistische Auskünfte verlangt er eine Arbeitszigarette. Eingenebelt wie Helmut Schmidt kommt er in Fahrt. An und für sich sei das Grundgesetz schon in Ordnung. „Es hakt halt an der Umsetzung“, sagt er. Und da müsste auch drin stehen, dass jeder vom Schulabschluss bis zur Rente arbeiten darf und muss. Und für diese Arbeit muss dann anständig bezahlt werden. Zufrieden über diese Erkenntnis guckt Hans auf seine leer getrunkene Flasche Schultheiss und bittet um eine weitere Arbeitszigarette.

Jörg betritt das Bier. Er ist Taxifahrer und macht gerade Feierabend. Routiniert bestellt er „CWP“ – Currywurst Pommes. In der Hand gehabt hat er das Grundgesetz noch nicht. Aber er weiß, was drin steht: dass alle frei sind und die gleichen Rechte haben. „Und det find ick schon ma jut.“

WAHLKREIS – Politkneipe – Reinhardtstraße 37 – 10117 Berlin-Mitte – Newsletter unter
www.wahlkreis.com
BIER’S FRIEDRICHSTRASSE – Friedrichstraße 142, am Eingang S-Bahnhof – 10117 Berlin

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