Von Duschanbe über Erfurt nach Brüssel
Die Tadschikische Teestube in Berlin-Mitte ruft bei Jakob von Weizsäcker alte Erinnerungen wach: Von 2003 bis 2005 betreute er bei der Weltbank ein Aufbauprogramm für Tadschikistan. Das einst durchaus wohlhabende zentralasiatische Land war nach dem Zusammenbruch der UdSSR in einen Bürgerkrieg geschlittert und zählt heute zu den ärmsten Staaten der Erde. Jakob von Weizsäcker half dabei mit, die marode Infrastruktur zu erneuern und die Korruption zu bekämpfen. Dabei hat er ein Land mit „wunderschönen Landschaften und einer reichen islamischen Kultur“ kennengelernt.
An diesem Samstagnachmittag ist die Teestube bis auf den letzten Platz gefüllt. Wer reserviert hat, muss am Eingang seine Schuhe ausziehen und darf dann auf Sitzkissen an flachen Tischen platznehmen. Zwischen den Tischen stehen handgeschnitzte Säulen aus Sandelholz. „Diese Art der Teestube ist eine nomadische Tradition und wurde in Tadschikistan trotz des sowjetischen Einflusses bewahrt“, berichtet uns die Geschäftsführerin der Tadschikischen Teestube, Olga Schöning.
Die Küche des Landes ist eher kräftig im Geschmack, viele Gerichte werden mit Schaf- oder Hammelfleisch zubereitet. Jakob von Weizsäcker bestellt wie früher in Duschanbe „Plov“ mit Lammfleisch (11,80 Euro) – ein Reisgericht, das in ganz Mittelasien verbreitet ist. Wir nehmen Nudelteigtaschen mit Hack und mit Käse überbacken (8,50 Euro). Und wir bestellen natürlich das tadschikische Nationalgetränk Tee, das mit verschiedenen Zuckersorten und Sahne serviert wird. Der Speisekarte zufolge kocht die Teestube jeden Tee „individuell und nach genauer Vorschrift“.
Während seiner Zeit in Tadschikistan, erzählt Jakob von Weizsäcker weiter, begann er auch Europa mit anderen Augen zu sehen: „In der Ferne erkennt man, wie gering die viel beschworenen kulturellen und mentalen Unterschiede zwischen den europäischen Nationen in Wahrheit sind.“ Was nicht bedeutet, dass er zuvor kein überzeugter Europäer war. Im Gegenteil, sein ganzer Lebenslauf atmet europäischen Geist: Abitur in Großbritannien. Friedensdienst in Polen. Studium der Physik und Volkswirtschaft in Paris, Danzig, Lyon. Mitarbeiter eines Londoner Wagnisfinanzierers. Referent im Bundeswirtschaftsministerium. Fellow beim renommierten europapolitischen Think Tank Bruegel in Brüssel. Erfinder der europäischen „Blue Card“. Wegbereiter der Eurobonds-Debatte.
Kurzum, der 43-Jährige, der heute als Abteilungsleiter im Thüringer Wirtschaftsministerium arbeitet, ist so etwas wie der ideale Europakandidat. Das dachten sich auch führende Thüringer Sozialdemokraten, als sie ihn fragten, ob er bei der Wahl zum Europäischen Parlament am 25. Mai antreten würde. Von Weizsäcker sagte sofort zu und setzte sich gegen eine parteiinterne Mitbewerberin durch. „SPD-Kandidat für Thüringen“ lautet jetzt seine offizielle Bezeichnung.
„Ich bin ein enthusiastischer Bewerber“, sagt von Weizsäcker. Schließlich stehe nicht irgendeine Europawahl an, sondern eine entscheidende: In den kommenden Jahren würden die Weichen des Kontinents für die nächsten Jahrzehnte gestellt – „und das EP bestimmt in wichtigen Bereichen darüber mit“. Der Wahlkampf werde zeigen, dass die Parteien in Deutschland sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft Europas haben. „Neben den im engeren Sinne europaskeptischen Parteien wie der AfD gibt es einige weitere Parteien, die mit populistischen Gedanken zündeln“, sagt er. Zur zweiten Kategorie zählt von Weizsäcker „ganz klar die Linkspartei und die CSU“, aber auch Teile der CDU, wie die aktuelle Debatte über die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren beweise. Aus seiner Sicht sind allein die Grünen und die SPD zuverlässig pro-europäische Parteien.
„Ein gutes Essen ist Balsam für die Seele“ – dieses alte tadschikische Sprichwort gilt auch in der Teestube: Essen und Tee schmecken ausgezeichnet, wir fühlen uns auf unseren Sitzkissen rundum wohl. Leider sind wir so stark in die Diskussion vertieft, dass wir vergessen, als Nachtisch die typischen tadschikischen Süßspeisen zu bestellen. Liegen Union und SPD bei grundlegenden europapolitischen Fragen nicht austauschbar dicht beieinander? Jakob von Weizsäcker widerspricht vehement. „Auf der einen Seite steht Kanzlerin Merkel, die den Menschen sagt, dass in Europa alles so bleiben kann, wie es ist.“ Deshalb habe sich in Deutschland eine gleichgültige Stimmung breitgemacht nach dem Motto: Krise, welche Krise? „In Wirklichkeit haben wir überhaupt keinen Anlass, uns erleichtert zurückzulehnen.“ Die Architektur der Eurozone sei noch immer nicht tragfähig und der Fiskalpakt kaum mehr als „weiße Salbe“. Genau das hätten die Sozialdemokraten begriffen: dass die Banken-, Staatsschulden- und Wettbewerbsfähigkeitskrise noch lange nicht gelöst ist. „Es muss sich einiges ändern, wenn uns die Eurozone nicht demnächst wieder um die Ohren fliegen soll.“
Auf welche Weise die Eurozone reformiert werden müsste, darüber hat Jakob von Weizsäcker im Oktober 2013 zusammen mit zehn weiteren Wissenschaftlern ein Manifest in der Zeit veröffentlicht. Die Kernforderung der so genannten Glienicker Gruppe: Die Eurozone braucht eine handlungsfähige Wirtschaftsregierung, die von einem Euro-Parlament gewählt und kontrolliert wird. Diese Wirtschaftsregierung – und nicht die Europäische Zentralbank! – müsse mit den Krisenländern über Reformpakete verhandeln, Bankenschließungen anordnen und die Bereitstellung öffentlicher Güter sicherstellen. Vonnöten seien außerdem die Schaffung einer robusten Bankenunion samt Abwicklungsmechanismus sowie ein „solidarisches Sofortprogramm“ für die Länder mit hohen Arbeitslosenzahlen. „Sonst wird die soziale Krise in eine politische Krise umschlagen“, sagt Jakob von Weizsäcker voraus.
Die Vorschläge der Glienicker Gruppe haben auch international Gehör gefunden. Der niederländische Publizist René Cuperus, der für die sozialdemokratische Wiardi Beckman Stichting arbeitet, hat die Glienicker Gruppe in einem Aufsatz jüngst als „radikale Föderalisten“ und „Avantgarde des europäischen Establishments“ bezeichnet. Mit solchen Vorwürfen kann von Weizsäcker wenig anfangen. „Wir sind doch keine Wahnsinnigen, die den europäischen Superstaat wollen.“ Ebenso wenig sei die SPD das „europhile Spiegelbild der europhoben AfD“. Vielmehr gehöre es zur sozialdemokratischen Wahlkampfstrategie, klar zu formulieren, dass Brüssel nicht alles theoretisch denkbare auch tatsächlich regulieren und festlegen muss. „Die Frage, ob das Layout der Führerscheine oder die Friedhofsordnungen akribisch harmonisiert werden, ist nicht relevant für die Zukunft Europas.“ Die EU solle sich auf das Wesentliche konzentrieren und dürfe sich nicht verzetteln.
Bei aller Kritik an der gegenwärtigen Rettungspolitik: Grundsätzlich begreift von Weizsäcker Europas Krise als Chance. „Wir wissen doch schon lange, dass wir den Banken- und Finanzsektor stärker europäisieren müssen, nur haben die nationalen Befindlichkeiten und die starken Lobbyinteressen dies bisher verhindert.“ Die offene Frage sei, ob Europa dieses Versäumnis jetzt nachholt – oder ob der Kontinent auf nationale Lösungen zurückfällt, „die weit vom Optimum entfernt liegen“.
In dieser Situation will Jakob von Weizsäcker seinen Beitrag dazu leisten, dass die EU nicht auf eine schiefe Ebene gerät. Wer arme und von Kriegen gebeutelte Länder kennt, der weiß, wie viel wir Europäer zu verlieren haben. Jakob von Weizsäcker hat in Tadschikistan gelebt. Das wird ihm in Brüssel nützlich sein.