Was an Deutschlands Universitäten üblich ist - und was nicht
Endlich tut sich etwas an den deutschen Universitäten. Mehr als ein Jahrzehnt dauert jetzt schon an, was man als die neue Debatte über Hochschulreform bezeichnen könnte - herausgekommen war bisher sehr wenig. Das mochte darin begründet sein, dass sich seit den späten achtziger Jahren ganz unterschiedliche Interessenlagen, externe Einflüsse und soziale Kräfte auf eine Weise zu "neuer Unübersichtlichkeit" vermischten, die der "klassischen" Phase bundesrepublikanischer Hochschulreform in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren fremd war.
Damals wusste man noch, wie die hochschulpolitischen Fronten der Republik verlaufen: die Studenten gegen die Professoren (und deren "Muff unter den Talaren"), die selbstverwaltete Gruppenuniversität gegen das Honoratiorenregime der Ordinarien. Nicht zuletzt schienen die Grenzen zwischen "links" und "rechts", zwischen "Progressiven" und "Konservativen" (scheinbar?) eindeutig gezogen; und obendrein war noch genügend Geld vorhanden, um ambitionierte und aufwändige Experimente zu ermöglichen.
Nicht nur die Finanzierbarkeit der Hochschulreform ist inzwischen an die engen Grenzen der öffentlichen Haushalte gestoßen. Kaum jemand vermöchte noch zu sagen, was in dieser Debatte eine linke oder eine rechte Position wäre: Ist die Forderung nach Studiengebühren reaktionär oder gerade sozial fortschrittlich und gerecht? Speist sich die Klage über die Ökonomisierung der Universitäten aus konservativer oder marxistischer Kapitalismuskritik?
Mindestens vier Stränge müsste man unterscheiden, die sich in der neuen hochschulpolitischen Debatte auf komplizierte Weise überlagern - nur ganz stichwortartig können sie hier bezeichnet werden:
Erstens, die - verspätete - Reaktion auf jene quantitative Expansion, die durch die erste Reformphase ausgelöst worden ist, aber mit deren Mitteln nicht bewältigt werden konnte. Damit ist nicht nur die Explosion der Studierendenzahlen gemeint (sowohl absolut wie auch relativ, als Studierendenanteil der Jahrgangskohorten), sondern auch das Wachstum von Fakultäten, Fachbereichen und Forschungszusammenhängen in Dimensionen, die eine autonome Steuerung immer schwieriger machten.
Zweitens, die Folgen der deutschen Einigung und der Umgestaltung des Wissenschaftssystems der DDR. Trotz der relativ erfolgreichen Etablierung der "abgewickelten" und neu gegründeten Universitäten in den fünf neuen Ländern und in Berlin wird man wohl bilanzieren müssen, dass hier viel Reformenergie verpufft ist, viele Chancen nicht genutzt wurden. Denn im Ergebnis stand meist die Angleichung an das westdeutsche Muster, von dem schon 1990/91 alle wussten, dass es selbst dringend der Neuerung und Veränderung bedurfte.
Drittens, der Sog der internationalen Konkurrenz und Standardisierung des Studiums, aber auch der Wissenschafts- und Forschungsorganisation im allgemeinen. Das ist eine der umstrittensten Veränderungen, die bei Lehrenden wie Lernenden viele Affekte gegen "Kurzzeitstudium", "Verschulung" oder "Amerikanisierung" geweckt hat. Man muss aber unterscheiden: Der Sog der Internationalisierung hat mit der Auslieferung der deutschen Universitäten an Marktökonomie und angelsächsischen Kapitalismus per se erst einmal wenig zu tun. Die Deutsche, die in Paris studiert, und die Französin, die nach Heidelberg kommt, möchte vielmehr ihre credit points angerechnet haben und vielleicht auch über die Grenzen hinweg einen aussagekräftigen Abschluss erwerben.
Die "Ökonomisierung" des Hochschulsystems (womit ganz unterschiedliche institutionelle Reformen gemeint sein können, von der Finanzautonomie bis zur Drittmittelforschung) ist ein vierter Impuls, der dem vergleichenden Blick ins Ausland zweifellos vieles verdankt, aber durchaus auch "hausgemachte" Elemente enthält und jedenfalls in der deutschen Debatte seinen eigenen Charakter gewonnen hat.
Eines aber scheint über viele Jahrzehnte erstaunlich gleich geblieben: der Aufschrei der etablierten Professorenschaft, wenn die Reformen an Privilegien oder liebgewordene Gewohnheiten kratzen. Der Unterschriftenappell des Hochschulverbandes gegen die bevorstehende Dienstrechts- und Besoldungsreform hat das noch einmal gezeigt, und der Passauer Amerikanist Klaus P. Hansen haut in die gleiche Kerbe, wenn er in der Berliner Republik die "Amerikanisierung" der bundesrepublikanischen Universitäten zurückweist, unter welchem Etikett er offenbar jegliche Hochschulreform, jegliche Veränderung des Status quo, versteht.
Eine bloße Protestäußerung, und sei sie auch bloß defensiv, ist dem erstarrten Schweigen sicherlich immer noch vorzuziehen, das für die Mehrheit der deutschen Hochschullehrer eher typisch sein dürfte. Aber man sollte auch in einer Polemik eine faire, eine korrekte Darstellung von Fakten erwarten dürfen, gerade wenn es um Verhältnisse im Ausland - hier also: in den Vereinigten Staaten - geht, die nicht jedem gleichermaßen vertraut sein können. Das Hochschul- und Bildungssystem der Vereinigten Staaten erscheint bei Klaus P. Hansen als ein Zerrbild, das mit der Realität oft nicht viel zu tun hat, sondern auf bequeme Weise geläufige antiamerikanische Vorurteile bedient.
Erster Irrtum: Im Hochschulsystem der Vereinigten Staaten gebe es "höchstens 30" Institutionen, bei denen Qualität von Professoren und Forschung sich mit dem messen könnten, was in Deutschland "üblich" (was ist bei uns "üblich"?) sei; kurz gesagt: Nach Harvard und Yale komme die große Leere. Falsch. Wenn irgendwo das schöne Bonmot von der "großen Breite in der Spitze" zutrifft, dann im Hochschulsystem der Vereinigten Staaten. Selbstverständlich gibt es dort eine enorme Spannweite der tertiären Bildung, und ein zweijähriges Community College ist gewiss weit eher eine höhere Berufsschule als eine Universität. Aber unbestreitbar gibt es keine riesige Kluft zwischen den ganz wenigen Spitzenuniversitäten, deren Namen auch hierzulande jedem geläufig sind, und einem breiten "oberen Mittelfeld" von Hochschulen, die es leicht mit dem aufnehmen können, was in "Deutschland" (in Heidelberg oder Lüneburg? in Bielefeld oder Passau?) üblich ist. Dreißig qualitativ ganz exzellente Universitäten und Colleges könnte man mit Leichtigkeit allein im amerikanischen Nordosten, zwischen Boston und Washington, benennen. Alles andere ist billiges Klischee.
Das amerikanische College ist verschult - nicht nur zum Nachteil der Studierenden
Zweiter Irrtum: Das vierjährige College- oder Undergraduate-Studium sei kein ein Fachstudium, sondern hole nur die Allgemeinbildung nach, welche die amerikanischen High Schools im Gegensatz zu deutschen Gymnasien nicht vermittelten. Falsch. Natürlich ist das College-Studium in den USA ganz anders organisiert, auch formal stärker verschult, als das deutsche Universitätsstudium - nicht unbedingt zum Nachteil der Studierenden. Von der dünkelhaften Arroganz im Vergleich des - ach so ehrwürdigen - deutschen Gymnasiums mit der High School (die ja im Prinzip eine Gesamtschule ist) einmal zu schweigen, ist das danach beginnende Undergraduate-Studium sehr wohl in hohem Maße fachbezogen. Es vermittelt starke Anteile dessen, was wir ein Studium generale nennen würden - und zu dem wir uns in Deutschland in mancher Hinsicht, und mit guten Gründen, wieder zurückbewegen: unter anderem deshalb, weil die Allgemeinbildung und die wissenschaftspropädeutischen Kompetenzen der Abiturienten eben doch nicht so hervorragend sind. Aber der Schwerpunkt des College-Studiums liegt gleichwohl, zumal im dritten und vierten Studienjahr, auf einer fachgemäßen Spezialisierung durch die Wahl eines Hauptfaches, des so genannten major. Die Tendenz zu dieser Spezialisierung hat in den vergangenen Jahrzehnten, zumal in den Natur- und Ingenieurwissenschaften (also beim Bachelor of Sciences-Abschluss), eher noch zugenommen.
Von der Uni an die Supermarktkasse? Das gibt es nicht einmal in Amerika
Dritter Irrtum: Ein vermeintlich so generell und unakademisch konzipiertes Studium könne gar nicht zu einer vernünftigen Berufsqualifizierung führen. Wer nach einem mehrjährigen Studium der Geisteswissenschaften, vielleicht mit einer germanistischen Spezialisierung, sein Examen mache, werde deshalb typischerweise Kassierer in einem Supermarkt. Falsch. Zwar ist das amerikanische Studium nicht wie das deutsche auf eine klare Zuordnung von Fächern und anschließenden Karrierewegen bezogen. Aber ist das bei uns nicht in vieler Hinsicht ein Relikt früherer Zeiten, das sich nicht zuletzt der starken Staatsbindung des deutschen Akademiker-"Marktes" verdankte? Ist nicht der Geschichtsstudent, der sich, vielleicht sogar als "Abbrecher", erfolgreich in der Internet-Beratung selbständig macht, inzwischen genauso typisch wie der angehende Referendar?
Vor allem aber ist die College- und Universitätsbildung in den USA immer noch der klassische Karriereeinstieg, der Zugang zur Welt der professionals, die Eintrittskarte in die middle class - wie weit auch immer der ausgeübte Beruf von dem ursprünglichen Fachstudium entfernt ist. Der Germanistik-Magister wird also typischerweise gerade nicht Kassierer in einem Supermarkt - das ist in Amerika noch immer den Ungebildeten, den Benachteiligten, häufig: den ethnischen Minderheiten, "vorbehalten". Weiterhin beruht der Erfolg des tertiären amerikanischen Bildungssystems ganz wesentlich darauf, eine sehr hohe Akademikerquote adäquat im Arbeitsmarkt zu platzieren.
Sind acht Jahre Aufenthalt am Hochschulort wirklich besser als vier Jahre Studium?
Was folgt nun daraus? Einerseits die ernüchternde Feststellung, dass auch nach langjähriger Diskussion um die deutsche Hochschulreform nach internationalen Vorbildern die genauen Kenntnisse des amerikanischen Universitätssystems, und überhaupt der dortigen Zusammenhänge von Bildung und Gesellschaft, erschreckend gering sind. Andererseits das Fazit, dass kein einziges der zahlreichen Probleme der deutschen Universitäten durch eine Totalverweigerung gegenüber dem amerikanischen Modell aus der Welt geschafft wird. Niemand wird das amerikanische - oder das englische, oder das französische - Hochschulsystem als ganzes nach Deutschland importieren wollen. Aber als ein Orientierungsmaßstab, als Quelle von Reformanstößen ist es bei weitem nicht hinreichend ausgeschöpft. Einige Beispiele sollen das wenigstens andeuten.
Stichwort "Differenzierung des Studiums": Es gibt längst keine überzeugenden Argumente mehr gegen den Versuch einer generellen Studienzeitverkürzung, jedenfalls bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss. Das liegt nicht einmal in erster Linie im Interesse "der Wirtschaft", sondern der Universität und vor allem der Studierenden selbst. Statt acht bis zehn Jahre unkonzentriert zu studieren und parallel dazu unqualifiziert zu jobben, sollte besser drei oder vier Jahre konzentriert studiert werden - gegebenenfalls erleichtert durch Stipendien -, um anschließend einen Berufseinstieg zu finden, der diesen Namen verdient.
Das immer noch gehörte Argument, lange Verweilzeiten an der Universität entlasteten den Arbeitsmarkt, ist bildungspolitisch wie arbeitsmarktökonomisch gleichermaßen naiv; es beruht auf jener Nullsummenhypothese einer gesamtgesellschaftlichen Arbeitsmenge, die sich schon im Konflikt um die Arbeitszeitverkürzungen als falsch erwiesen hat. Gegenüber den Studierenden ist es zynisch; es ist zum Beispiel sozialpolitisch verantwortungslos, den "jungen" Akademikern einen Beginn der Sozialversicherungsbiografie im Alter von 32 oder 35 Jahren zuzumuten. Ein kurzes Studium, dem dafür volle Aufmerksamkeit gilt, muss deshalb auch nicht zu der "Entakademisierung" führen. Findet die Entakademisierung nicht vielmehr schon jetzt in jedem Seminar, in jeder Übung statt, in der man sich an die nicht Studierfähigen, die Überforderten, die Unmotivierten gewöhnt hat?
Die Gleichheit der Universitäten ist in Deutschland längst nur noch Fiktion
Das Hochschulsystem der USA ist ehrlich genug, eine schlichte Wahrheit anzuerkennen, welche die Kehrseite der Bildungsexpansion darstellt: 35 bis 40 Prozent eines Jahrgangs sind nicht "akademisierungsfähig" im Sinne der humanistischen Bildungsideale des 19. Jahrhunderts. Deshalb ist es nicht nur ehrlicher, sondern vor allem sozial gerechter, auch denjenigen ein spezifisches Hochschulbildungsangebot zu machen, die nicht Professor oder Richterin, promovierte Chemikerin oder Arzt werden wollen.
Stichwort "Pluralisierung des Hochschulsystems": Auch hier könnte man fragen, ob es die viel beschworene Gleichheit aller deutschen Universitäten wirklich noch gibt, ob sie nicht ebenfalls auf schleichende Weise zur Fiktion geworden ist. Denn an einigen Universitäten wird mehr und erfolgreicher, an anderen weniger geforscht; die ungleiche Verteilung der DFG-Sonderforschungsbereiche oder Graduiertenkollegs spricht eine deutliche Sprache. Es ist verwunderlich, wenn einerseits an den Hochschulen über bürokratische und zentral gesteuerte Einschränkungen der Autonomie geklagt wird, andererseits aber die Konsequenz einer solchen Autonomie: nämlich eine offensichtliche Leistungsdifferenzierung, gescheut wird. Doch die Schuld dafür liegt ebenso in der Hochschulpolitik des Bundes und der Länder, die innovative Wege einzelner Hochschulen bisher kaum prämiiert, sondern eher zu verhindern gesucht hat. Schließlich geht es nicht darum, einigen Universitäten bessere Forschung und Lehre zuzugestehen und anderen eine weniger gute.
Hohe und niedrige Studiengebühren - wieso soll es eigentlich nicht beides geben?
Die Qualität einer Hochschule wird erst das mittel- und langfristige Ergebnis bestimmter institutioneller Entscheidungen sein, und genau darauf kommt es an: einen institutionellen Pluralismus im Hochschulsystem politisch jedenfalls nicht zu verhindern oder, besser noch, ihn zu begünstigen und zu fördern. Warum soll es nicht staatliche und private Universitäten nebeneinander geben; warum soll es nicht Hochschulen mit Zulassungsbeschränkungen und solche ohne geben; mit hohen und mit niedrigen Studiengebühren? Von einem offenen Wettbewerb könnten alle Seiten nur profitieren.
Stichwort "Interne Organisation": In jüngerer Zeit wird viel über die Auslieferung der deutschen Universitäten an nackte Prinzipien des Marktes geklagt; in Wirklichkeit war eine weit weniger beachtete Tendenz mindestens ebenso stark: die der bürokratischen Steuerung und der zunehmenden Abhängigkeit der Hochschulen von zentralen Vorgaben für Forschung und Lehre. Diese zentralen Steuerungsimpulse kamen ebenso sehr aus der ministeriellen Hochschulpolitik wie aus der enorm gewachsenen Macht "intermediärer Institutionen" des Wissenschaftssystems wie der DFG oder des Wissenschaftsrates. Das ist übrigens eine Entwicklung, die auch die Wissenschaftspolitik der jetzigen Bundesregierung aufmerksamer und kritischer verfolgen sollte.
Der eigenen Nase muss der Griff des deutschen Professors gelten
Wenn man sich die ambivalenten Folgen dieser unterschätzten Zentralisierung klar macht, wird man vielleicht ein wenig anders über Markt und Autonomie denken. Doch auch hier müssen sich die deutschen Hochschullehrer an die eigene Nase fassen. Wer jahrzehntelang die - gewiss schwierige - Selbstverwaltung der Universität verspottet oder sich ihr verweigert hat, der darf am Ende eigentlich nicht über die zunehmende Fremdsteuerung klagen. Im amerikanischen Hochschulsystem, selbstverständlich auch an den führenden privaten Forschungsuniversitäten, ist committee work und professional service übrigens ein selbstverständlicher Bestandteil des Berufes, während in Deutschland immer noch die meisten Professoren zu glauben scheinen, eine Sitzung der Lehr- oder Finanzkommission gehe ihrer "eigentlichen" Arbeitszeit verloren.
Für die Wissenschaftler, so das Fazit, ist die Zeit vorbei, den Kopf in den Sand zu stecken. Das haben viele vielleicht erst jetzt gemerkt, da es mit der Dienstrechts- und Besoldungsreform auch an ihr eigenes Portemonnaie geht. Aber beide Seiten, Politik wie Universitäten, müssen ihre Frontstellung gegeneinander aufgeben, die letztlich niemandem nützt. Das ernsthafte Bemühen um Reformen sollte man einander nicht absprechen. Was die Universitäten betrifft, wird es bei diesem Dialog in Zukunft immer mehr auf die jüngeren Wissenschaftler ankommen, da die Generation der Reformer von "Achtundsechzig" bald die Bühne verlassen wird.