"Es geht um offene Eliten"
BERLINER REPUBLIK: Nicht erst seit dem Fall Zumwinkel ist der Begriff „Elite“ in Deutschland negativ besetzt. Warum eigentlich?
PAUL NOLTE: Wir sind in unserem Land durch eine tiefe Schule des Egalitarismus gegangen. Es fällt uns schwer, mit gesellschaftlichen Unterschieden umzugehen, Leistungen oder Begabungen anzuerkennen. In der Ständegesellschaft wurden gesellschaftliche Positionen noch vererbt und als natürliche Ordnung akzeptiert. Ab dem 19. Jahrhundert spielten ökonomische Potenz und Bildung für den Elitenzugang eine immer größere Rolle – formal frei verfügbare Ressourcen. Die Tendenz seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, Ungleichheit in der Gesellschaft zunehmend in Frage zu stellen. Den Eliten wird sozusagen der Respekt verweigert.
Aber das ist doch im Sinne der Aufklärung eine gute Entwicklung!
NOLTE: Im Prinzip schon. Der Zivilist weicht dem Offizier auf dem Bürgersteig nicht mehr aus; Eltern gehen mit ihren Kindern weniger autoritär um. Problematisch wird es, wenn Leistungsträger pauschal verurteilt werden: Was erzählt der da oben? Die Politiker sind doch alle Idioten!
Wie würden Sie den Begriff Elite definieren?
NOLTE: Zur Elite als soziale Gruppe gehört, wer aufgrund von Leistung oder Befähigung Führungsaufgaben wahrnimmt und dabei eine besondere Verantwortung trägt. Funktionseliten gibt es in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen: politische Eliten, wirtschaftliche Eliten, Journalisteneliten. Aber eigentlich würde ich Elite lieber als einen dynamischen Prozess definieren: als Erwerb von Fähigkeiten, als sozialen Aufstieg, als Ergebnis von Bildung. Es geht um offene Eliten.
Aber gerade in Deutschland bestimmt die Herkunft maßgeblich über die berufliche Karriere. In seiner Studie über Eliten und Macht in Europa beschreibt der Elitenforscher Michael Hartmann, wie etwa der Zugang zu den – traditionell großbürgerlichen – Wirtschafts-, Justiz- und Verwaltungseliten nicht aufgrund von Leistung, sondern von Beziehungen oder einem bestimmten Habitus erfolgt.
NOLTE: Zunächst einmal muss man zwischen normativen und empirischen Eliten unterscheiden. Wir wollen, dass nur die Besten der Elite angehören. Daher müssen wir uns fragen, nach welchen Kriterien die Besten ausgewählt werden. In der Politik funktioniert das zum Beispiel gar nicht so schlecht. Zwar ist der Bundestag ein Akademikerparlament geworden und es gibt den Elektroinstallateur oder den Industriedreher kaum noch, der über die Gewerkschaft eine politische Karriere macht. Aber im Vergleich zu den Vereinigten Staaten oder zu Frankreich, wo die politische Klasse von wenigen Eliteuniversitäten stammt, ist das System sehr offen. Anders in der Wirtschaft, da spielt die Vererbung von Positionen tatsächlich eine größere Rolle.
Trotzdem wächst die Politikverdrossenheit. Und politisch engagieren sich weniger Bürger als früher – zumindest in den Parteien.
NOLTE: Aber wo gibt es in der Politik reale Frustrationserfahrungen, die auf strukturelle Hemmnisse zurückgehen? Niemand kann mir ernsthaft erzählen, dass er daran gehindert wird, sich politisch zu artikulieren. Im Gegenteil weiß jeder, der sich schon einmal an einer Bürgerinitiative beteiligt hat, der seinem Abgeordneten geschrieben hat, der einer Gewerkschaft beigetreten ist oder der bei einer Parteiversammlung aufgetaucht ist: Man wird dort mit Handkuss empfangen. Wir verfügen über ein sehr offenes System politischer Beteiligung. Schröder, Merkel, Beck, Steinmeier: Die haben doch keine Elite-Ahnentafel! Die Verdrossenheit hat andere Ursachen.
Die öffentliche Debatte dreht sich vor allem um die Bildungschancen von Kindern aus sozial schwächeren Familien, um frühkindliche Förderung oder die Abschaffung der Hauptschule. Vergessen wir darüber, auch unsere angehenden Leistungseliten besser zu unterstützen?
NOLTE: Da sehe ich nicht das Hauptproblem. Im Grunde verfügen wir über ganz gute Mechanismen der Eliteförderung. Noch deutlicher: Die angehenden Eliten sollten nicht zuviel jammern. Die Herausforderung liegt eher in der Verbreiterung des Zugangs: Die erschreckend vielen informellen Mechanismen auf dem Weg zu bestimmten Spitzenpositionen sind ungerecht. Wenn wir diese Zugänge stärker formalisieren und kontrollieren könnten, würde das zu offeneren und besser legitimierten Eliten führen.
Viele Linke glauben an einen neoliberalen Elitenkonsens: Aus Eigeninteresse würden die Eliten systematisch eine marktradikale Politik verfolgen. Als Beispiel wird gern das Elitenprojekt der Europäischen Union angeführt, dem die soziale Dimension fehle.
NOLTE: Aus meiner Sicht sind das Verschwörungstheorien. In Wirklichkeit ist die Elite doch selbst heterogen, sie hat eine pyramidenförmige Struktur. An der Spitze befinden sich zum Beispiel die Vorstandsvorsitzenden der 30 DAX-Unternehmen, die Mitglieder der Bundesregierung und die engere politische Klasse, zu der längst nicht alle Bundestagsabgeordneten zählen. Unter den Eliten gibt es heftige Machtkämpfe, auch ideologische Auseinandersetzungen, die man nicht unterschätzen sollte – gerade in der Politik. Dennoch gibt es so etwas wie einen Elitenkonsens, einen Konsens von Bildungsschichten über das, was auf die politische Agenda gehört. Das ist einerseits eine Art politischer Wertekanon, andererseits ein realistischer Handlungshorizont. Man weiß dann, dass man den Kapitalismus nicht abschaffen kann. Und dass die parlamentarische Demokratie nicht völlig korrupt ist, sondern das Beste, was wir haben. Diese Form des Elitenkonsenses unterscheidet die Eliten möglicherweise von anderen Gruppen, in denen populistische Vorstellungen verbreitet sind.
In Ihrem Buch „Generation Reform“ fordern Sie eine junge Reformelite. Eine neue Generation der 30- bis 40-Jährigen müsse nun Verantwortung übernehmen, um die angestauten Problemlagen aufzulösen. Geht es Ihnen nicht doch um einen erneuerten Elitenkonsens?
NOLTE: Zunächst: Ich habe eine bürgerschaftliche, nicht eine Elitenbewegung gemeint. Jeder sollte sich daran beteiligen können. Das Problem besteht darin, dass diese Generation nicht als Aktionseinheit in Erscheinung tritt. Im Unterschied zu früheren Generationen haben die heute 25- bis 45-Jährigen keine einschneidende generationelle Prägung, aus der sie eine bestimmte Politik ableiten würden. Deshalb haben es alle Generationen nach den Achtundsechzigern schwerer, so etwas wie ein gemeinsames Projekt zu definieren.
Wie steht es mit den Erfahrungen der Wiedervereinigung oder der Globalisierung?
NOLTE: Natürlich, die gibt es auch. Doch entscheidend sind die Erfahrungen der permanenten Krise seit Mitte der siebziger Jahre. Die Achtundsechziger haben im Grunde noch aus dem Vollen geschöpft. Sie haben in einer Welt gelebt, die man revolutionieren konnte, auch weil es ihr materiell so gut ging. Danach erst wurde den Menschen bewusst, dass die Ressourcen endlich sind – die natürlichen, aber auch die öffentlichen Ressourcen. Deshalb gehört zum Elitenkonsens beispielsweise das Ziel ausgeglichener öffentlicher Haushalte.
Das Phänomen der sozialen Exklusion der Oberschicht kannten wir lange vor allem aus Ländern wie Brasilien, wo die Superreichen in Gated Communities, in geschlossenen Wohnanlagen leben. Heute beobachten wir solche Trends der Abschottung auch bei uns – Stichwort Privatschulen. Bedeutet eine solche Exklusion eine Gefahr für die Gesellschaft oder ist sie eine normale Entwicklung?
NOLTE: Die Gefahr sehe ich durchaus, dass sich ein größerer Teil der Gesellschaft abkoppelt und der normalen Welt weder in der Schule, beim Einkaufen noch in öffentlichen Verkehrsmitteln begegnet. Nur: Wo ist die Eintrittsgrenze zu dieser exklusiven Oberschicht? Das ist doch ein bekanntes sozialpsychologisches Phänomen: Egal, wo man sich befindet – kurz darüber fangen die Oberen an, die sich angeblich abgrenzen. Man selbst gehört nie dazu. Aus der Sicht des Handwerkers will der Professor nichts mit ihm zu tun haben. Der Professor empfindet sich selbst aber als Mittelschicht, die abgeschottete Oberschicht beginnt erst über ihm. Übrigens sind Privatschulen längst kein Eliten- oder Abschottungsphänomen mehr, sondern haben mit Selbstreproduktion einer Bildungsschicht zu tun; oft melden dort sehr engagierte Eltern ihre Kinder an.
Immer wieder steht das Verhalten der Wirtschaftseliten und der politischen Eliten in der öffentlichen Kritik. Müssen Eliten den normativen Erwartungen besser nachkommen, die wir an sie stellen? Oder müssen wir anders herum mit unseren Eliten entspannter umgehen?
NOLTE: Beides. Wer in bestimmten Führungspositionen oder in der Öffentlichkeit agiert, trägt große moralische Verantwortung. Eliten sind gezwungen, ihr Leben ganz besonders zu kontrollieren und zu überprüfen. Gleichzeitig müssen sich Verhalten und Kommunikation zwischen Normalbürgern und Eliten verändern. Eliten müssen erfahrbarer werden. Für Bundestagsabgeordnete ist das ganz normal. Sie stehen im Wahlkampf auf der Straße oder beantworten im Bürgerbüro Fragen. Das ist eine Herausforderung, der sich andere Eliten neu stellen müssen. Nicht von ungefähr erklingt in den Unternehmen oft der Vorwurf, dass der Spitzenmanager – im Gegensatz etwa zum Familienunternehmer – von außen einfliegt, mit dem Fahrstuhl direkt in die 20. Etage fährt und die Firma über den Keller verlässt, wo der Dienstwagen geparkt ist. Kurz: Dass er in einer eingekapselten Welt lebt. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Einkapselung gesprengt wird, so weit und so oft es geht.
Herzlichen Dank für das Gespräch!