Schneckentempo oder Revolution?

Heute rächt sich, dass sich die Diskussion darüber, welches demokratische Europa wir wollen, lange Zeit nur im Diffusen bewegt hat. Diese Debatte muss jetzt wiederbelebt werden - nicht der Krise wegen, sondern weil wir Europäer längst kulturell und lebensalltäglich zusammengewachsen sind

I n der Staatsschuldenkrise droht Europa auseinanderzufliegen und wächst doch zusammen. Die Entscheidung der Europäischen Zentralbank von Anfang September, Anleihen der kriselnden Eurostaaten prinzipiell unbegrenzt aufzukaufen, markiert keinen plötzlichen Richtungswechsel – er ist nur ein weiterer Schritt auf dem konsequenten Weg zu einer fiskalischen Union, die einen politischen Integrationsschub nach sich ziehen muss. Ökonomische und politische Integration, das heißt für Europa: Lebens-, Solidar- und Wettbewerbsgemeinschaft in demokratischer Verfassung. Doch diese beiden Seiten des Zusammenwachsens auch zusammen zu denken, fällt vielen in Europa schwer, nicht nur den Deutschen.

Aus dem Regierungslager kommen warnende, teils schrille Töne, die das eigene Land als fiskalische und ökonomische Festung beschwören. Manche spekulieren auf die Ängste der Bürgerinnen und Bürger, ihren eigenen Wohlstand den Griechen opfern zu müssen. Gleichzeitig sind die Deutschen nach wie vor ganz vorn dabei, wenn es um die Bereitschaft zum Verzicht auf nationale Souveränität geht, zum Umbau Europas – sei es des Euroraums oder darüber hinaus – in die Richtung eines demokratischen Bundesstaates. Das gilt partei- und richtungsübergreifend. Manchmal ist, eher rechts von der Mitte, ein Stück Heuchelei nicht ganz auszuschließen, neuerdings vorzugsweise mit einer kalten Instrumentalisierung des Bundesverfassungsgerichts: Natürlich ist man für vertiefte Integration und europäische Demokratie, aber leider, leider weist das höchste deutsche Gericht auf die Grenzen des Grundgesetzes hin.

Nationale Nabelschau rechts und links der Mitte

Umgekehrt leidet die deutsche Integrationseuphorie, auch und gerade links von der Mitte, an einer nationalen Nabelschau. Der Appell von Jürgen Habermas, Peter Bofinger und Julian Nida-Rümelin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. August 2012 lässt merkwürdig unberücksichtigt, welche politische Integration, welchen nationalen Souveränitätsverzicht die anderen Europäer eigentlich wollen. Die Initiative zu einem Verfassungskonvent soll selbstverständlich die Bundesrepublik als größtes „Geberland“ ergreifen. Lies, in Holland, Frankreich, Polen: Die wirtschaftliche Vormacht gibt nun auch Tempo und Richtung der politischen Integration vor. Man wird sich bedanken, mit Recht.

Andererseits muss man sich in Lissabon, Madrid und Athen schon fragen lassen, welche politischen Konsequenzen die gegen deutsche Bedenken so dringend gewünschte Haftungs- und Fiskalunion haben wird. Wenn nicht alles täuscht, neigen die Südeuropäer zu einer eher technischen Sichtweise auf die gegenwärtige Krise. Angesichts der ideologischen Überhöhung, zu der die Deutschen immer noch neigen, muss das gar nicht so schädlich sein. In den südeuropäischen Hauptstädten wird viel demonstriert, auch im Namen der Demokratie. Doch eine machtvolle öffentliche Bewegung, von Massen oder Intellektuellen oder beiden, für eine demokratische Einigungsrevolution Europas, für ein europäisches 1787, sucht man bisher vergebens.

Wirtschaftliche und politische Integration lassen sich nicht trennen, so oder so. Eine ökonomische und fiskalische Krise funktionierte auch als mächtiger Treiber, als die lose Union der nordamerikanischen Staaten sich in den 1780er Jahren als Bundesstaat neu erfand. Der nationalen Einigung Deutschlands ging nicht nur romantische und liberale Emphase, sondern auch wirtschaftliches Zusammenwachsen voraus, im Zollverein von 1834, mit der norddeutschen Gewerbefreiheit von 1869. Die Geschichte der europäischen Einigung ist ohne ihre ökonomischen Impulse, ohne die Integration von Handel und Märkten erst recht nicht vorstellbar: Europa entstand seit den fünfziger Jahren als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, als Montan-, Agrar- und Zollunion. Aber die wirtschaftliche Einigung war doch nur ein sekundäres Ziel und eigentlich eher ein Mittel zum Zweck. Denn die europäische Integration wurzelt in der Erfahrung des Kontinents in der ersten Jahrhunderthälfte, in zwei europäischen Weltkriegen, gescheiterten Demokratien und der völkermordenden NS-Diktatur in Deutschland.

Wirtschaftliche Verflechtung sollte Wohlstand, Versöhnung und Frieden garantieren, aus dem sich ein einzelnes Land nicht mehr ohne erhebliche Risiken ausklinken konnte. Demokratie sollte stabilisiert – und nicht zuletzt: Deutschland eingehegt, vor Ambitionen neuen Vormachtstrebens bewahrt werden. Dieser Pakt ist kein Relikt aus den fünfziger Jahren; er wurde 1990 bekräftigt, mit der europäisch eingebundenen Wiedervereinigung und der folgenden Erweiterung der Europäischen Union nach Osten. Ohne Europa kein wiedervereinigtes Deutschland, kein demokratisches Polen. Mit anderen Worten: Der politische Zusammenhalt und die Demokratisierung Europas sind aufs engste mit wirtschaftlicher Integration verknüpft und haben sich ihrer als ein Vehikel bedient. Bisweilen konnte – diesen Vorwurf müssen sich die politischen Führer Europas, aber auch wir alle uns machen lassen – dieses Vehikel seine Antriebskraft vergessen lassen. Deshalb gilt es jetzt, den Primat der Politik in der europäischen Integration zurückzugewinnen.

Falsch ist es, in der gegenwärtigen Krise eine Vertiefung der politischen Integration vor allem deshalb zu wünschen, damit sie mit der rasanten ökonomischen Verflechtung schritthalte, die immer mehr Elemente einer Fiskal-, Haushalts- und Sozialunion einschließt. Politik und Parlamente müssen nicht nur operativ, also im Krisenmanagement, den Vorrang gegenüber den Märkten behaupten, sondern vor allem strategisch, als Vision für die Zukunft Europas: Welches demokratische Europa wir wollen, das ist die zentrale Frage.

Willy Brandt würde sich die Augen reiben

Dass die Diskussion darüber eingeschlafen ist und sich überhaupt immer wieder nur im Diffusen bewegt hat, rächt sich nun. Die Vision eines politischen Zusammenwachsens der europäischen Demokratien reicht mindestens bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück, als viele – zumal in Deutschland – überzeugt waren, das Zeitalter der Nationalstaaten werde unaufhaltsam seinem Ende entgegengehen. Man stellte sich ein „Aufgehen“ der Nationen in einem gemeinsamen Europa vor, und selbst die zurückhaltendere Formulierung de Gaulles vom „Europa der Vaterländer“ ließ offen, ob damit die Unverrückbarkeit souveräner Nationalstaaten oder eher ein kulturell-politisches Identitätsprinzip gemeint war. In den vierziger und fünfziger Jahren malten sich nicht wenige sogar eine Weltdemokratie aus, die nach dem Schnittmuster des Nationalstaats genäht war: Weltparlament, Weltregierung, Weltpräsident. So ähnlich würde es wohl auch mit Europa gehen.

Aus einem doppelten historischen Grund lag den Deutschen eine solche Zielvorstellung seit der Adenauer-Zeit besonders nahe, und das gilt im Grunde bis heute: zum einen aufgrund ihrer Geschichte von Föderalismus und nationaler Einigung im 19. Jahrhundert, die man vermeintlich nur eine politische Ebene nach oben transponieren musste; zum anderen wegen der kulturellen Beschädigung des nationalen Denkens durch den Nationalsozialismus. In den letzten zehn Jahren, nach dem Scheitern der europäischen Verfassung an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden, ist die Einsicht auch bei uns gewachsen, dass ein europäischer Bundesstaat im Sinne „Vereinigter Staaten von Europa“ nicht das wahrscheinlichste, jedenfalls nicht das zwangsläufige Ziel der Geschichte ist. Politisch ist Europa ein Gebilde eigener Art, weder Bundesstaat noch Staatenbund noch supranationale Organisation. Diese Einsicht darf man jedoch nicht mit einer Kapitulation vor dem Status quo, mit Gleichgültigkeit gegenüber demokratischer Weiterentwicklung Europas verwechseln.

Ein neuer, emphatischer Appell zur Demokratisierung Europas verbindet sich in letzter Zeit häufiger mit einer düsteren Diagnose über den Zustand der Demokratie nicht nur in Europa – das klassische europäische „Demokratiedefizit“ –, sondern auch in den nationalen Gesellschaften. Angesichts des Druckes der Finanzmärkte auf die Politik geht das dunkle Wort von der „Postdemokratie“ um, aus deren vermeintlich bloß noch formal-demokratischen Verhältnissen eine europäische Demokratisierungsinitiative Rettung verspricht. So argumentiert auch das Habermas-Bofinger-Papier, demzufolge wir auf dem Weg von einer „Bürgerdemokratie“ in eine bloße „Fassadendemokratie“ bereits weit fortgeschritten sind. Bei allem Verständnis für sensible Warnsignale und pointierte Begriffe: Das ist eine maßlos überzogene Diagnose, die zudem für den europäischen Prozess nicht hilfreich ist. Unsere Demokratie ist komplizierter geworden; hier und da auch gefährdeter – übrigens durch soziale Abkopplung nach unten mindestens ebenso sehr wie durch Imperative der Finanzmärkte. Sie ist aber zugleich so lebendig und bürgernah wie nie zuvor; Willy Brandt würde sich die Augen reiben, wie viel Demokratie die Menschen wagen, jenseits des Stimmzettels. Europäisch nicht hilfreich ist dieses Zerrbild unserer Demokratie wiederum aus einem doppelten Grunde. Erstens bürdet es der demokratischen Mission Europas die unnötige Last einer Rettungsmission auf, die sie nicht tragen kann. Und zweitens wird eine solche Diagnose, von ein paar Intellektuellen abgesehen, in unseren Nachbarländern nicht mitvollzogen werden können. Man frage einmal die Engländer, oder die Polen, ob sie sich schon halb in einer „Fassadendemokratie“ wähnen, und wird schieres Unverständnis ernten.

Ein differenzierter Blick tut übrigens auch bei der Bewertung des politischen Gefüges Europas dringend not. Der häufig zu hörende Vorwurf, Europa sei schlichtweg nicht demokratisch verfasst, ist falsch – Politiker, Journalisten, Intellektuelle sind gefordert, besser zu erklären, weil sonst populistisches Ressentiment droht. Die Europäische Union ist keine Demokratie, aber sie hat sich ganz entschieden als Bündnis von Demokratien bewährt und tut das, insgesamt sehr beeindruckend, auch weiterhin, nach außen wie nach innen. Ihre Entscheidungen sind demokratisch legitimiert – in der Tat: nicht direkt genug, und mit einer exekutiven Schieflage. Sie wird von den Bürgern als fern empfunden – „Brüssel!“ – und hat doch breite Schneisen für eine bürgernahe Demokratie der individuellen Rechte geschlagen. Ihr Mischmasch von Institutionen und Organisationen ist allzu verwirrend, aber hat auch ein historisch ganz neuartiges System der Gewaltenteilung, der „checks and balances“, produziert.

Brüder in Barcelona, Schwestern in Marseille

Umgekehrt muss also ein Schuh daraus werden: Mehr politische Integration, mehr Demokratie in Europa brauchen wir nicht als letzten Rettungsanker angesichts einer kapitalistisch zerfressenen nationalen Demokratie, sondern weil Demokratie, von der Bürgerinitiative und dem Internet-Blog angefangen, tiefer, vielfältiger und anspruchsvoller geworden ist und die europäischen Verhältnisse davor nicht Halt machen können. Mehr Demokratie in Europa brauchen wir nicht zuerst wegen der Krise, sondern weil die Menschen und Völker Europas in den vergangenen Jahrzehnten auf beeindruckende Weise aufeinander zugegangen sind: Weil wir kulturell und lebensalltäglich zusammengewachsen sind, weil ein Kölner Brüder und Schwestern nicht nur in Leipzig hat, sondern auch in Barcelona, Athen oder Marseille. Wirtschaftliche Prozesse spielen dabei eine zentrale Rolle: die gemeinsame Währung als Lebensgefühl; europäische Fördermittel, um die man konkurriert oder für die man kooperiert; von der Vereinheitlichung von Konsum und Freizeit ganz zu schweigen. Nicht der „Druck der Märkte“ bringt uns zur Demokratie, das sollten wir uns verbitten. Es ist das gemeinsame Lebensgefühl, das in kulturellen ebenso wie in ökonomischen Dimensionen des Alltags wurzelt. Und übrigens: Eine Umverteilungsgemeinschaft, eine ökonomische Solidargemeinschaft ist Europa schon lange.

Mehr europäische Demokratie, eine Vertiefung politischer Integration als Demokratisierung: Wie kann das konkret aussehen? Einen Königsweg gibt es nicht, aber eine kreative und mutige Debatte sollten wir führen; nicht nur als Deutsche, sondern im europäischen Gespräch und Stimmengewirr. Eine Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten, wie sie Wolfgang Schäuble vorgeschlagen hat, ist eine interessante Spur, die der Richtung einer „klassischen“, nationalstaatlichen Demokratisierung Europas folgt. Auf derselben Linie bleibt eine Aufwertung des Europäischen Parlaments ein dringendes Bedürfnis, und man wünscht sich dazu nicht nur öffentliche Bekenntnisse, sondern auch lautstarke, kreative, vorwärtspreschende Initiativen der Parlamentarier. Merke: Wichtige Revolutionen sind immer auch Parlamentsrevolutionen gewesen. Man kann sich gewiss einen Verfassungskonvent vorstellen, irgendwo zwischen Parlamentarischem Rat und Verfassungsgebender Versammlung, aber er ist nur europäisch, nicht als deutscher Verfassungskonvent möglich; und warum sollte er dann seine Legitimation nicht aus dem Europäischen Parlament beziehen? Ein Referendum, ein Plebiszit wiederum wird nur dann sinnvoll sein, wenn es etwas abzustimmen gibt: den Entwurf einer europäischen Verfassung oder ein auf Europa hin neu gedachtes Grundgesetz. Zivilgesellschaftliche Demokratie hat Europa bereichert und sollte in seiner zukünftigen demokratischen Gesamtordnung eine Rolle spielen. Das Grundgesetz hat bekanntlich die Parteien als demokratische Akteure anerkannt; Bürgerinitiativen und Nicht-Regierungsorganisationen kommen in ihm immer noch nicht vor.

Ach ja, denken wir uns eine europäische Demokratie! Planen lässt sie sich kaum, denn entweder verläuft die Geschichte im Schneckentempo oder, wie 1989, in unerwarteter Beschleunigung, als Revolution. Aber auch diese Revolution brauchte ihre Denker, ihre fantasievollen und mutigen Gestalter.


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